AKTEN
Volkskammer 1990
Um den Umgang mit den Hinterlassenschaften der Staatssicherheit war in der DDR bereits seit Dezember 1989 eine große Debatte ausgebrochen, die nach den Wahlen in der Volkskammer fortgeführt wurde. Der Zentrale Runde Tisch erkämpfte die Auflösung der Staatssicherheit, danach blieb die Frage, wie mit dem verbliebenen Aktenmaterial umgegangen werden sollte.
Die Debatte um die Auflösung des MfS/AfNS
Der Zentrale Runde Tisch rang seit Dezember 1989 mit der Regierung Modrow um die Auflösung des Ministeriums für Staatsicherheit (MfS)/Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS) und konnte u. a. verhindern, dass die damalige Regierung einen alternativen Sicherheitsdienst bildete. Nach der Auflösung der Staatssicherheit blieb die Frage, wie mit dem verbliebenen Aktenmaterial umgegangen werden sollte. Auch innerhalb der DDR-Bürgerbewegung war das Schicksal der Akten umstritten – sollten sie vernichtet oder aufbewahrt werden? Hierzu wurde am Zentralen Runden Tisch keine endgültige Entscheidung gefällt. Dies zu regeln, wurde Aufgabe des neu gewählten Parlaments.
Kurz vor den Volkskammerwahlen entfachten spektakuläre Enthüllungen aus den Stasi-Unterlagen, wie zum Beispiel um den Vorsitzenden der SPD Ibrahim Böhme, eine lebhafte Debatte über die Integrität der neuen politischen Akteure. Diese Enthüllungen nährten allgemeine Zweifel, inwiefern die neu gewählten Volkskammerabgeordneten und Regierungsmitglieder vertrauenswürdig sind. Aus diesem Grund beschloss die Volkskammer bereits auf ihrer konstituierenden Sitzung am 5. April 1990 die Einsetzung eines „Zeitweiligen Prüfungsausschusses“, der die Abgeordneten der Volkskammer auf eine frühere Zusammenarbeit mit dem MfS überprüfen sollte.
Nach der Bildung der neuen Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière übernahm der Stellvertreter des Ministerpräsidenten und Minister des Innern Peter-Michael Diestel die Verantwortung für die weitere Auflösung des MfS/AfNS. Mit dem Ministerratsbeschluss 6/6/90 vom 16. Mai 1990 wurde die Arbeit des Regierungsbevollmächtigten, der zusammen mit dem Dreierkomitee vom Zentralen Runden Tisch für die Auflösung zuständig war, offiziell beendet und das im Februar eingesetzte staatliche „Komitee zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS“ dem Innenminister unterstellt. Eine Regierungskommission sollte den Minister zusätzlich unterstützen. Der Ministerratsbeschluss sah außerdem die Sicherung und Auswertung der MfS-Unterlagen durch die staatliche Archivverwaltung bzw. die Staatsarchive in den Bezirken vor. Dagegen regte sich Widerstand vor allem auf Seiten der Bürgerkomitees, die durch dieses Verfahren schrittweise aus dem Auflösungsprozess verdrängt wurden.
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Ministerratsbeschluss: Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS, 6/6/90, 16.5.1990. Quelle: BArch DC 20 I/3 2952, Bl. 174-198.
Der Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS
Am 7. Juni 1990 beschloss die Volkskammer auf Grundlage eines Antrages aller Fraktionen die Einsetzung eines parlamentarischen Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS. Den Vorsitz des Sonderausschusses übernahm der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck (Bündnis 90/Grüne). Der elfköpfige nach Fraktionsstärke besetzte Ausschuss konstituierte sich am 20. Juni 1990 und wurde von 16 externen Personen vornehmlich aus dem Bürgerkomitee unterstützt. Er sollte zunächst die Umsetzung des Ministerratsbeschlusses vom 16. Mai sowie die vollständige Auflösung des MfS/AfNS von Seiten der Regierung kontrollieren.
Im Laufe der Wochen nach Einsetzung des Ausschusses versuchte er zudem „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE) des Staatssicherheitsdienstes, die nach wie vor an leitenden Stellen in Staat und Wirtschaft tätig waren, ausfindig zu machen und ihre Entlassung zu erreichen. Der Ausschuss beteiligte sich außerdem maßgeblich an der Ausarbeitung des „Gesetzes zur Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit“.
Maria Michalk (CDU/DA) verdeutlichte bei der Vorstellung der Beschlussempfehlung des Innenausschusses und des Rechtsausschusses am 7. Juni 1990 die Wichtigkeit der Einsetzung des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS zur Aufarbeitung dieser Vergangenheit.
Quelle: Deutscher Bundestag.
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Antrag aller Fraktionen: Einsetzung eines Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS, DS 27, 31.5.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 30,
Bl. 285-286. -
Beschlussempfehlung des Innenausschusses: Einsetzung eines Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS, DS 27 a, 7.6.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 30, Bl. 287-288.
Zwischen den parlamentarischen Ausschüssen, namentlich dem Sonderausschuss und dem Zeitweiligen Prüfungsausschuss, und Innenminister Diestel kam es immer wieder zu Konflikten. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen wurde bekannt, dass „Offiziere im besonderen Einsatz“ des Staatssicherheitsdienstes seit Monaten in mehreren Ministerien unentdeckt tätig waren. Zudem wurde der Büroleiter des staatlichen „Komitees zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS“, Dieter Stein, als OibE enttarnt. Daraufhin stellten mehr als 20 Abgeordnete aus allen Fraktionen in der Volkskammersitzung vom 13. September 1990 einen Antrag, Innenminister Diestel wegen Unfähigkeit bei der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes abzuberufen. Der Antrag wurde abgelehnt, doch Ministerpräsident Lothar de Maizière entzog daraufhin Diestel die direkte Zuständigkeit und übertrug sie dem Staatssekretär im Ministerium des Inneren Eberhard Stief.
Die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes wurde mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 für beendet erklärt. Bis zum 31. Mai 1990 waren fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des AfNS/MfS entlassen worden. Die Auflösung der einzelnen Diensteinheiten und die Sicherung ihres Schriftgutes zog sich bis in den Juni 1990 hinein.
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Antrag von mehr als 20 Abgeordneten der Volkskammer, DS 236, 12.9.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 36, Bl. 594-595.
Hanns-Ulrich Meisel (Bündnis 90/Grüne) erläuterte in seinem Redebeitrag am 13. September 1990, wieso er und die anderen mehr als 20 Abgeordneten Innenminister Diestel wegen Unfähigkeit bei der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes abberufen wollen.
Quelle: Deutscher Bundestag.
Kontroverse Debatten um den Umgang mit den Stasi-Akten
In den parlamentarischen Debatten wie auch in der gesellschaftlichen Diskussion wurden Argumente für und gegen eine Offenlegung der Unterlagen kontrovers diskutiert. Einerseits boten die Hinterlassenschaften der Staatssicherheit die einmalige Gelegenheit, ihre Strukturen und Arbeitsweisen nachzuvollziehen. Durch den Zugang zu den Akten würde den Opfern und Betroffenen zudem die Aufarbeitung der eigenen Leidensgeschichte, ihre Rehabilitation und die Identifizierung von Verantwortlichen ermöglicht. Andererseits befürchteten viele, dass die Offenlegung der Stasi-Akten den gesellschaftlichen Frieden nachhaltig stören könnte. Auf bundesdeutscher Seite gab es zudem sicherheitspolitische Bedenken. Auch die Frage welche Institution für den Aktenzugang zuständig sein sollte, ob die Akten weiterhin dezentral oder an zentraler Stelle lagern und welche Einsichtsmöglichkeiten Opfer und Betroffene erhalten sollten, waren noch unbeantwortet. Diese Debatten begleiteten die Ausarbeitung und Verabschiedung des geplanten Gesetzes über die Nutzung und Sicherung der personenbezogenen Stasi-Unterlagen.
Ministerpräsident Lothar de Maizière war in dieser Frage zunächst unentschlossen. Sein Minister des Innern Peter-Michael Diestel hätte dagegen das Material am liebsten vernichtet. Er warnte beispielsweise in der 5. Sitzung am 26. April 1990, dass das Aktenmaterial geeignet sei, die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Bevölkerung auf Dauer zu vergiften. Er wollte die Akten nur auf Zeit zur Verfügung stellen und diese nach einem halben bzw. dreiviertel Jahr vernichten lassen. Nach dem Ministerratsbeschluss 6/6/90 vom 16. Mai 1990 sollten die Akten in ihrem Umfang reduziert und nur das Schriftgut aufbewahrt werden, das für die Rehabilitierung der Opfer, die Verfolgung von Straftaten sowie die politische und wissenschaftliche Aufarbeitung notwendig sei. Die personenbezogenen Unterlagen blieben weiterhin gesperrt. Lediglich Staatsanwaltschaften, Gerichte und parlamentarische Untersuchungsausschüsse durften sie nach diesem Beschluss einsehen.
Innenminister Peter-Michael Diestel erläuterte am 26. April 1990 seine Aufgaben als Innenminister bei der Auflösung des MfS/AfNS und seine Überlegungen zum Umgang mit dem Aktenmaterial. Er warnte davor, dass das Aktenmaterial geeignet sei, die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Bevölkerung auf Dauer zu vergiften.
Quelle: Deutscher Bundestag.
Auch in den Reihen der Bürgerkomitees und der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler hatte es zunächst Überlegungen gegeben, die Akten zu vernichten. Matthias Büchner vom Erfurter Bürgerkomitee berichtete Anfang März, dass die Mitglieder des Bürgerkomitees einerseits das Material am liebsten vernichten würden, damit kein anderer Geheimdienst damit arbeiten könne. Andererseits benötige man die Akten als Beweismittel für Rehabilitierungsanträge. Später sprach sich die Mehrheit der Bürgerrechtsbewegungen für die Aufbewahrung der Personenakten aus. Nur so hätte man die Chance auf geschichtliche und kulturelle Aufarbeitung. Viele der Opfer bzw. Betroffenen wollten ihre Akte einsehen oder gar ausgehändigt bekommen. Auch für den Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS stand fest, dass zu einer politischen Aufarbeitung die Aufbewahrung des Schriftgutes zählt. Nach Ende der Tätigkeit des Ausschusses solle sichergestellt werden, dass die Akten weiterhin aufbewahrt werden und die Opfer das Recht haben, in ihre Akten Einsicht zu erhalten, so der Vorsitzende des Sonderausschusses Joachim Gauck am 20. Juli 1990. Hierfür sei auch eine Regelung nach der deutschen Einheit in der Bundesrepublik sinnvoll.
Die Erarbeitung rechtlicher Grundlagen zum Umgang mit den Stasi-Akten
Die Debatten um den Umgang mit den Stasi-Akten begleiteten die Ausarbeitung und Verabschiedung des geplanten Gesetzes über die Nutzung und Sicherung der personenbezogenen Stasi-Unterlagen. Der Ministerrat brachte am 19. Juli einen ersten Gesetzesentwurf in die Volkskammer ein, der mit Hilfe der staatlichen Kommission, der Regierungskommission und westlicher Berater entstanden war. Als Gesetzeszweck wurden der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Opfer des MfS, ihre Rehabilitierung sowie die Bestrafung der Täter genannt. Der Entwurf sah die Aufbewahrung der Akten in einem zentralen Sonderdepot vor, dem ein von der Volkskammer gewählter Beauftragter vorstehen sollte. Die Personendaten sollten weiter gesperrt bleiben, ihre Nutzung durch Geheimdienste verboten sein. Lediglich bei Rehabilitierungs-, Entschädigungs- und Strafverfahren sowie bei der Überprüfung von Abgeordneten auf eine frühere MfS-Mitarbeit sollte eine Akteneinsicht möglich sein. Andere Akteneinsichten waren nicht vorgesehen. Die Opfer hatten nach diesem Entwurf nur unter bestimmten, eng begrenzten Voraussetzungen das Recht, Informationen über ihre Akten zu erhalten. Des Weiteren wurde die Antragsfrist für die Auskunft auf ein Jahr begrenzt. Regelungen über die Dauer der Aufbewahrung personenbezogener Akten oder über ihre mögliche Vernichtung enthielt der Entwurf nicht.
Die erste Lesung zu diesem Entwurf fand am 22. Juli 1990 in der Volkskammer statt. Die Gesetzesinitiative als solche wurde zwar gelobt, aber in der anschließenden Diskussion wurde der Entwurf von Abgeordneten aller Fraktionen insbesondere in Bezug auf die geplante zentrale Aktenlagerung stark kritisiert. Die Zuständigkeit für die Aktenlagerung sollte bei den Bezirken bzw. Ländern liegen. Die Verwaltung der Akten müsse auch nach der Vereinigung Sache der DDR-Bürger bleiben, argumentierte beispielsweise Marianne Birthler von Bündnis 90/Grüne. Auch die erschwerte bzw. kaum bestehende Möglichkeit der Akteneinsicht für Opfer wurde bemängelt.
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Antrag des Ministerrates: Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS, DS 165, 19.7.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 35, Bl. 562-569.
Im Auftrag der Volkskammer veränderte der Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS den vom Ministerrat eingebrachten Gesetzentwurf noch einmal grundlegend. Am 24. August 1990 verabschiedete die Volkskammer fast einstimmig die neue Fassung als „Gesetz über die Nutzung und Sicherung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS“. Alle Redner äußerten die Erwartungen, dass es bei den Verhandlungen zur Vereinigung berücksichtigt und in Bundesrecht übergehen solle. Zentrales Ziel des Gesetzes war die in Paragraph 1 genannte „politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit“.
Das Gesetz sah eine dezentrale Lagerung und Verwaltung der Akten sowie die Aufarbeitung der Akten des MfS in Sonderarchiven der Länder vor. Der von der Volkskammer gewählte Sonderbeauftragte stand demnach nur dem Archiv der früheren Zentrale des MfS in Berlin-Lichtenberg vor. Die Länder sollten eigene Länderbeauftragte wählen, die die jeweils auf ihrem Gebiet lagernden Bestände der früheren Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen verwalten sollten. Gauck erklärte, dies sei die Konsequenz aus der Forderung, dass die Bürger der DDR als Betroffene der MfS-Vergangenheit auch nach der Vereinigung über den Verbleib und die Nutzung der Akten entscheiden sollten. Dies könne am einfachsten über die Länderparlamente geschehen. Das Recht der Betroffenen auf Auskunft hatte man gegenüber dem ursprünglichen Entwurf so weit ausgebaut, wie es nach den Bestimmungen des bundesdeutschen Datenschutzrechts zulässig schien. Hinweise auf die Möglichkeit einer späteren Aktenvernichtung fehlten.
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Beschlussempfehlung des Sonderausschusses: Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS, DA 165 a, 24.7.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 35, Bl. 570-580.
Zusammenschnitt der Volkskammersitzungen am 24. August 1990 und am 13. September 1990 über die Debatten zum Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS.
Quelle: Deutscher Bundestag.
Öffentliche Proteste und Nachverhandlungen zum Einigungsvertrag
Am 29./30. August wurde bekannt gegeben, dass das „Gesetz über die Nutzung und Sicherung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS“ nicht in den Einigungsvertrag übernommen werden sollte. Bis zur Verabschiedung eines neuen, gesamtdeutschen Gesetzes sollte der Präsident des Bundesarchivs in Koblenz die Funktion eines Sonderbeauftragten für die MfS-Unterlagen wahrnehmen. Ein dreiköpfiger Beirat mit nur einem Vertreter aus der DDR sollte ihm zur Seite gestellt werden. Die bundesdeutsche Regierung sprach sich zudem gegen die dezentrale Lagerung aus.
Am 30. August 1990 beauftragten die Volkskammerabgeordneten mit nur zwei Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen die DDR-Regierung daraufhin, das Gesetz vom 24. August im Einigungsvertrag zu sichern. Die Abgeordneten aller Fraktionen sahen die Souveränität und Würde des Parlaments verletzt und erhoben schwere Vorwürfe gegen Innenminister Diestel. „Wir erwarten als SPD, daß der Innenminister sich zu seiner politischen Verantwortung bekennt und entweder den Willen des Parlaments durchzusetzen versucht oder zurücktritt“, so Jes Möller von der SPD.
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Antrag aller Fraktionen: Sicherung des Gesetzes zur Sicherung von Stasi-Akten im Einigungsvertrag, DS 211, 30.8.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 36, Bl. 394.
In der Nacht vom 30. zum 31. August wurde bereits nachverhandelt. Am folgenden Tag unterzeichneten die beiden Verhandlungsführer Günter Krause und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble den Einigungsvertrag. Darin wurde dem Ministerrat der DDR das Recht zugesprochen, den künftigen Sonderbeauftragten im Einvernehmen mit der Volkskammer vorzuschlagen. Der Präsident des Bundesarchivs war als sein ständiger Stellvertreter vorgesehen. Ein Beirat sollte aus einer Mehrheit ehemaliger DDR-Bürger eingerichtet werden. Der Einigungsvertrag enthielt dann auch die ausdrückliche Vereinbarung, die Akten auf dem Gebiet der DDR zu lagern. An dem Plan der zentralen Aufbewahrung hielt man allerdings fest. Schließlich empfahlen die Vertragsparteien, die Grundsätze des Volkskammergesetzes in der zukünftigen Gesetzgebung zu berücksichtigen. Es war jedoch nicht vorgesehen, dass das Volkskammergesetz von der Bundesrepublik übernommen werden sollte.
Dieser Kompromiss im Einigungsvertrag genügte den Abgeordneten der Volkskammer nicht. Die Empörung auch innerhalb der Bevölkerung war groß. Am 4. September 1990 besetzten 21 Mitglieder von Bürgerkomitees und Bürgerrechtsgruppen die ehemalige Stasizentrale in Ost-Berlin. Sie forderten die Übernahme des Volkskammergesetzes in den Einigungsvertrag. Ab dem 12. September traten sie zudem in den Hungerstreik. Die Aktion erfuhr eine hohe mediale Aufmerksamkeit. Es folgten Solidaritätsbekundungen und Mahnwachen im ganzen Land. Zwischen den Besetzerinnen und Besetzern und der Volkskammer bestanden enge Kontakte. Die Volkskammer-Fraktionen Bündnis 90/Grüne und SPD erklärten sich zudem mit den Besetzerinnen und Besetzern solidarisch.
Auf Regierungsebene hatten zum Zeitpunkt der Besetzungen und Mahnwachen dann bereits die Nachverhandlungen zum Einigungsvertrag begonnen.
Der öffentliche Druck hatte schließlich Erfolg. Am 18. September 1990 wurde eine Zusatzvereinbarung zum Umgang mit den personenbezogenen Stasi-Akten als Kompromisslösung in den Einigungsvertrag aufgenommen. Der zentrale Zweck des Volkskammergesetzes, die „politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen MfS/AfNS zu gewährleisten“, fand sich darin wieder. Auch wurde den Betroffenen das Recht zur Einsicht in ihre Unterlagen garantiert. Die Grundsätze des Volkskammergesetzes sollten dabei nicht nur, wie es in der ursprünglichen Vereinbarung am 31. August hieß, „berücksichtigt“, sondern „umfassend berücksichtigt“ werden. An der zentralen Verwaltung der Unterlagen durch den Sonderbeauftragten hielt man fest, doch sollte jetzt auch eine dezentrale Lagerung der Akten in Berlin und den Ländern möglich sein. Den neuen Bundesländern wurde zudem die Berufung von Landesbeauftragten zugestanden.
Joachim Gauck erläuterte in einem Interview mit der „Aktuellen Kamera“ am 21. September 1990 den Kompromiss der Zusatzvereinbarung zum Umgang mit den personenbezogenen Stasi-Akten im Einigungsvertrag.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.
In der Parlamentsdebatte am 20. September 1990 zur zweiten Lesung des Einigungsvertrags begrüßten die Redner der FDP, CDU und SPD für ihre Fraktionen den Kompromiss, auch wenn die Mehrheit nicht gänzlich damit zufrieden war. 14 Abgeordnete der SPD erklärten, dem Einigungsvertrag nur unter großen Bedenken zuzustimmen, nicht zuletzt deshalb, weil das Volkskammergesetz zum Umgang mit den Akten im Vertrag nicht verbindlich festgeschrieben worden sei. Die PDS lehnte den Einigungsvertrag ab. In der Fraktion Bündnis 90/Grüne waren die Meinungen gespalten. Der Einigungsvertrag und damit auch die Regelung zum Umgang mit den Stasi-Akten wurde mit einer Mehrheit von 299 Ja-Stimmen zu 80 Nein-Stimmen und einer Enthaltung angenommen.
Ende September wurde Joachim Gauck von der Volkskammer zum Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Verwahrung der Akten und Dateien des ehemaligen MfS/AfNS ernannt. Er trat sein Amt mit Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 an und nahm seine Arbeit zur Verwahrung, Erschließung und Offenlegung der Akten des ehemaligen MfS auf. Das Prozedere der Akteneinsicht wurde schließlich im Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 29. Dezember 1991 einheitlich geregelt und aus dem Sonderbeauftragten wurde der „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“.
Mit großer Mehrheit wählte am 28.9.1990 die DDR-Volkskammer Joachim Gauck (rechts) als Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Verwahrung der Akten und Dateien des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit – Amtes für Nationale Sicherheit. Gauck hier im Gespräch mit Innenminister Diestel (links).
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Antrag des Ministerrates: Beschluss über den Vorschlag für den Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Verwahrung der Akten und Dateien des ehemaligen MfS/AfNS, DS 249, 25.9.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 36, Bl. 638.
Marianne Birthler erinnert sich, wie über den Umgang mit den Akten der Staatsicherheit in der Volkskammer diskutiert und diese Debatte später im gesamtdeutschen Bundestag weitergeführt wurde.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022.
Der Umgang mit den Staatsakten in der Volkskammer
Anders als der Umgang mit den Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ist die Debatte um die Archive der SED nur kurzzeitig Anfang der 1990er-Jahre in einer größeren Öffentlichkeit geführt worden. Ähnlich wie bei den Stasi-Akten ging es darum, die Akten der Parteien und Massenorganisationen zu sichern und vor Vernichtung zu schützen, da das Material Auskunft über die Machtstrukturen innerhalb der DDR geben konnte. Bei den Debatten ging es vornehmlich um die Sicherung der Akten der Parteien und Massenorganisationen und den Verbleib des Zentralen Parteiarchivs der SED (ZPA), das seit 1963 im Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED (IML) angesiedelt war. Dieses Institut wurde Anfang Januar 1990 von der SED-PDS in ein Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung (IfGA) überführt. Am Zentralen Runden Tisch wurde die Sicherung und Offenlegung der Akten der SED-PDS bereits Ende Januar gefordert. Zu konkreten Regelungen zum Umgang mit dem Zentralen Parteiarchiv der SED kam es unter der Regierung Modrow jedoch nicht mehr. Es wurden lediglich Maßnahmen zur Sicherung von dienstlichem Schriftgut und Archivgut aus den Ministerien festgelegt, für die das Zentrale Staatsarchiv und die Staatliche Archivverwaltung zuständig waren.
Das Zentrale Staatsarchiv war bemüht, sich nach den Volkskammerwahlen im März 1990, auch mit Hilfe westdeutscher Archivvertreterinnen und -vertreter, mit der PDS über Regelungen für die Bestände des Zentralen Parteiarchives der SED zu einigen. Die Doppelstruktur von Staat und Partei sowie die „führende Rolle der SED“ gestalteten es schwierig, zwischen SED und Staat und somit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Unterlagen zu unterscheiden. Daher müssten Teile der Bestände des Zentralen Parteiarchivs mit staatlicher Provenienz im Zentralen Staatsarchiv gesichert werden und sollten langfristig nach der deutschen Einheit in das Bundesarchiv übergehen. Die PDS argumentierte hingegen, dass das der Partei gehörende Archiv in erster Linie eine einzigartige Sammlung historischer Quellen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und sozialen Bewegungen in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Gegenwart darstelle. Zudem sei das Zentrale Parteiarchiv im Kern eine nichtstaatliche, eine private Einrichtung, die auch entsprechend behandelt werden müsse.
Marianne Birthler forderte am 22. Juli 1990 die PDS und die Blockparteien auf, ihr Archivmaterial zur Aufarbeitung zur Verfügung zu stellen.
Quelle: Deutscher Bundestag.
Nachdem eine Initiative im Ministerrat zur Sicherung des SED-Archivguts gescheitert war, wurde am 13. September 1990 ein gemeinsamer Antrag von den Fraktionen CDU/DA, der SPD, der DSU, der FDP und Bündnis 90/Grüne in die Volkskammer eingebracht, in dem gefordert wurde, dass das Archivgut der Parteiarchive des Politbüros der SED und des Zentralkomitees der SED durch den Staat gesichert werden sollte.
Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne) unterstrich in der anschließenden Debatte die Notwendigkeit einer staatlichen Sicherung des SED-Parteiarchivs, plädierte aber dafür, dass das Archivgut der Führungsgremien der Blockparteien ebenfalls einzuziehen. Daher sollte der Antrag dahingehend ergänzt werden, nicht nur die schriftlichen Überlieferungen der SED staatlich zu sichern, sondern auch die Archivalien der ehemaligen Blockparteien sowie die in enger Verbindung zur SED stehenden Massenorganisationen. Klaus Höpcke (PDS), langjähriger stellvertretender Kulturminister der DDR, wandte sich entschieden gegen den Antrag. Diese Enteignung bzw. Verstaatlichung des Archivs stehe auf keiner rechtlichen Grundlage.
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Antrag der Fraktionen der CDU/DA, der SPD, der DSU, der F.D.P. und Bündnis 90/Grüne: Archivgut der SED, DS 235, 12.9.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 36, Bl. 589-591.
Der Rechtsausschuss, in den der Antrag von der Volkskammer überwiesen wurde, beschloss in seiner Sitzung am 18. September mit vier Stimmen bei drei Enthaltungen, den Fraktionsantrag zur Sicherung des SED-Archivgutes „aufgrund der fehlenden rechtsstaatlichen Grundlage“ abzulehnen. Auch in der Sitzung des Innenausschusses wurde dieser Antrag abgelehnt. Zur Begründung hieß es, bei Begehungen und Sichtungen im Parteiarchiv durch Vertreterinnen und Vertreter des Innenausschusses sei deutlich geworden, dass bereits zum vorhandenen Archivbestand das gesamte Material aus den ehemaligen Abteilungen, Kommissionen sowie Einrichtungen des Zentralkomitees der SED übernommen und gesichert wurde. Eine breite wissenschaftliche Nutzung sei auf Grundlage der neuen Benutzerordnung möglich.
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Beschlussempfehlung des Innenausschusses: Archivgut der SED, DS 235 a, 20.9.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 36, Bl. 592-593.
Die Volkskammer folgte in der Plenardebatte am 20. September 1990 den Beschlussempfehlungen der beiden Ausschüsse. Der letzte in der DDR unternommene Versuch, das Zentrale Parteiarchiv der SED unter staatliche Kontrolle zu bringen, war gescheitert. Somit gelang es nicht, eine Regelung für die Sicherung des Archivguts der SED sowie der übrigen Parteien und Massenorganisationen in den Einigungsvertrag aufzunehmen.
Im Einigungsvertrag wurde die Zuständigkeit des Bundesarchivgesetzes lediglich auf die Unterlagen staatlicher Stellen der DDR ausgeweitet und schloss die Archive der Parteien und Massenorganisationen nicht ein. Die Debatten darüber wurden im geeinten Deutschland fortgesetzt, wo 1992 schließlich die „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ (SAPMO) als unselbstständige Stiftung des öffentlichen Rechts im Bundesarchiv 1992 errichtet wurde. Dort werden bis heute die Unterlagen der zentralen Leitungsebenen der Parteien, Gewerkschaften und Massenorganisationen der DDR gesichert und zugänglich gemacht.
Andreas Steiner (DSU) forderte im Namen seiner Fraktion am 20. September 1990, das Archivgut der SED zu verstaatlichen.
Quelle: Deutscher Bundestag.
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