ELITEN
Bundestag 1989 – 1990
Ein Kernproblem der Aufarbeitung von Diktaturen betrifft den Umgang mit ehemaligen Funktionsträgern in Justiz und Verwaltung. Der Widerspruch liegt auf der Hand: Eine Person, die der Diktatur gedient hat, kann nicht dem für öffentliche Ämter geforderten Eintritt für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gerecht werden. Sie kann auch nicht auf das Vertrauen derjenigen Personen hoffen, die in der Diktatur unter Repressionen gelitten hatten. Gleichzeitig wird für den Neuaufbau der Verwaltung erfahrenes Personal benötigt.
Nach 1945 führte letzteres zu einer weitgehenden Übernahme des Justiz- und Verwaltungspersonals in die Behörden der neuen bundesdeutschen Demokratie. Dies behinderte die Aufarbeitung der NS-Diktatur jahrzehntelang, da Schlüsselpositionen mit Personen besetzt waren, die eine Aufarbeitung aktiv verhinderten. Ende der 1980er-Jahre war man sich dieser Problematik bewusst. In der Umbruchsphase nach dem Mauerfall 1989 war es im Bundestag gängige Ansicht, den Fehler der Nachkriegszeit nicht zu wiederholen und im Osten Deutschlands einen strengen Elitenwechsel zu verfolgen. Ob bestimmte Personengruppen auch aus Rentenregelungen ausgeschlossen werden sollten, war darüber hinaus Thema einer ersten Debatte im Bundestag.
Antje Vollmer (1989-1990 Fraktionssprecherin DER GRÜNEN im Bundestag) spricht über die Unterschiede hinsichtlich des Elitenwechsels nach der NS-Diktatur und nach der SED-Diktatur.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022.
„Für Stasi-Leute keine Rente!“ – Initiativen zur Änderung des Fremdrentenrechts
Nach dem Mauerfall waren die Strukturen der SED-Diktatur noch nicht offengelegt. Welche Personen hatten das System aktiv gestützt? Wer hatte sich schuldig gemacht? In den Reihen der Bundesregierung und der Fraktionen der CDU/CSU und FDP stand jedoch bereits fest: Menschen, die für das Ministerium für Staatssicherheit bzw. das Amt für Nationale Sicherheit gearbeitet hatten, konnten als Verantwortliche eindeutig und unstrittig identifiziert werden. Für die Gesetzgebung im Westen des noch geteilten Landes bedeutete dies für die Fraktionen der CDU/CSU und FDP, dass man das in der unmittelbaren Nachkriegszeit geschaffene und ursprünglich für Vertriebene und Spätaussiedlerinnen und -aussiedler eingeführte Fremdrentengesetz reformieren musste. Das Gesetz regelte, unter welchen Voraussetzungen diese Personengruppen für außerhalb der Bundesrepublik Deutschland geleistete Arbeit in der Bundesrepublik eine Rente bekommen konnten. Seit dem Mauerfall siedelten zahlreiche Menschen aus der noch bestehenden DDR in die Bundesrepublik über. Die beiden Fraktionen befürchteten, dass sich darunter auch Personen befinden könnten, die sich in der DDR schuldig gemacht hatten. Durch einen Entwurf zur Änderung des Fremdrentenrechts wollten sie diese Personen von der Rentenregelung ausschließen. So hieß es im Entwurf:
„Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Personen, die 1. gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben, 2. die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekämpft haben oder 3. in den Herkunftsgebieten einem herrschenden System politischer Unterdrückung — unter anderem durch Wahrnehmung geheimdienstlicher oder sicherheitspolizeilicher Aufgaben für einen Staatssicherheitsdienst — erheblich Vorschub geleistet haben. Satz 1 Nr. 3 gilt nicht für Personen, die sich vor dem 30. Juni 1989 von den Systemen politischer Unterdrückung abgewendet haben, sofern dies in einem entsprechenden Verhalten zum Ausdruck gekommen ist.“
Der Entwurf stieß bei den Fraktionen der SPD und der GRÜNEN auf Kritik. Rudolf Dreßler (SPD) bezeichnete in der Debatte am 15. Februar 1990 den „Stasi-Rentner“ als „Phantom“ und „Produkt der Stammtischphantastereien“ und stellte die Frage in den Raum, ob es überhaupt Fälle gäbe, auf die das Gesetz anwendbar wäre. Das Fremdrentenrecht sei durch die deutsche Einheit ohnehin ein auslaufendes Gesetz. Außerdem kritisierte er die bloße Zugehörigkeit zum MfS bzw. AfNS als nicht hinreichenden Anwendungsfall. Einer Person, die beispielsweise als Pförtner beim MfS gearbeitet habe, die Rente zu entsagen, sei mit dem Gleichberechtigungsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Marieluise Beck-Oberdorf (DIE GRÜNEN) verwies auf den Umstand, dass ehemalige NS-Funktionäre in der Bundesrepublik ihre Pensionsansprüche behalten hätten, um so – wie es hieß – den inneren Frieden im Land zu bewahren. Sie stellte den Koalitionsfraktionen die Frage, ob sie das System in der DDR schlimmer fänden als das des Nationalsozialismus. Außerdem sei unklar, wie die Deutsche Rentenversicherung feststellen solle, wer von den Leistungen ausgeschlossen werden solle und wer nicht. Die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter könne nur Auskunft über Straftaten geben. Das sei jedoch nicht hinreichend zur Identifikation der im Entwurf genannten Personengruppe. Vertreter der CDU/CSU und der FDP widersprachen der Kritik. Die Zentrale Erfassungsstelle könne ausreichende Informationen liefern, es ginge im Antrag um individuelle Schuld und nicht um die Zugehörigkeit zu einer Institution. Auch wenn die Änderung des Gesetzes nicht viele Personen betreffen würde, sei sie notwendig. Der Entwurf wurde an die Ausschüsse überwiesen. Zu einer zweiten und dritten Lesung kam es nicht mehr.
Das Gebäude des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR von der Frankfurter Allee aus gesehen. Aufnahme vom 24.9.1985.
Bundesdeutsche Geheimdienste und ehemaliges Personal der Stasi
Neben den Rentenregelungen beschäftigte sich der Bundestag in einer Aktuellen Stunde unter dem Thema „Angebliche Verpflichtung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter durch den BND oder andere Dienste der Bundesrepublik Deutschland“ am 12. September 1990 auch mit Gerüchten, die auf Aussagen des DDR-Innenministers Peter-Michael Diestel (CDU) im bundesdeutschen Boulevardmagazin „Bunte“ beruhten. Laut Diestel wurden ehemalige Beschäftigte des Ministeriums für Staatssicherheit durch bundesdeutsche Nachrichtendienste übernommen. Die von der SPD-Fraktion initiierte aktuelle Stunde war verbunden mit einer generellen Kritik an Diestel, dem die bundesdeutsche SPD vorwarf, ehemalige Stasi-Seilschaften zu stützen. Die Fraktion der CDU/CSU widersprach den Vorwürfen hinsichtlich einer Beschäftigung ehemaliger Stasi-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter durch die bundesdeutschen Dienste. Informationen – etwa hinsichtlich des RAF-Terrorismus –, die ehemalige Stasi-Bedienstete den bundesdeutschen Behörden gegen Zahlungen zur Verfügung stellten, seien jedoch für die Arbeit der Nachrichtendienste essentiell. Diese gezahlten Beträge seien aber nicht vergleichbar mit einer Anstellung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter.
Burkhard Hirsch (FDP) diskreditierte die Einberufung der aktuellen Stunde durch die SPD-Fraktion als Wahlkampfmanöver. Man müsse jedoch ein Verfahren finden, das nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verhindere, dass unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für den Aufbau des Verfassungsschutzes in den neuen Bundesländern angeworben werden, Personen mit Stasi-Vergangenheit seien. Die Entgegennahme von Informationen durch bundesdeutsche Dienste sei gerechtfertigt, solange es sich dabei um Informationen über die Tätigkeit der Staatssicherheit in der Bundesrepublik handle. Hierfür könnten auch Geldbeträge gezahlt werden. Kritischer seien jedoch Situationen, bei denen bundesdeutsche Dienste aktiv auf ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit zugehen und nach Informationen fragen würden. Es müsse hier klar eine Grenze gezogen werden.
DIE GRÜNEN nahmen die Debatte zum Anlass, Transparenz hinsichtlich der Arbeit der Geheimdienste einzufordern und kritisierten die vermeintlichen Übernahmeangebote und das Fließen von Geldbeträgen gegen Informationen. Letzteres erwecke den Eindruck, man honoriere die ehemaligen Stasi-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter auch noch für ihre Tätigkeit.
Die Bundesregierung bestätigte, dass es keine Übernahme von ehemaligen Stasi-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern in die bundesdeutschen Dienste geben würde. Eine Regelung, die verhindere, dass entsprechende Personen in die neuzugründenden Behörden in den neuen Bundesländern aufgenommen werden, müsse noch gefunden werden. Die Abschöpfung von Informationen wurde nicht bestritten, daraus würden wichtige Erkenntnisse etwa über die Überwachung der bundesdeutschen Gesellschaft durch das MfS gewonnen werden können.
Die Regelungen im Einigungsvertrag
Äußerungen hinsichtlich der Überprüfung von Angestellten des öffentlichen Dienstes fanden in den Monaten zwischen Mauerfall und deutscher Einheit gelegentlich Eingang in die Debatten des Bundestags, ohne dass es zu konkreten Gesetzesinitiativen gekommen wäre. Die Situation änderte sich erst, als im September 1990 über den Einigungsvertrag debattiert wurde.
Es stand unter anderem die Frage im Raum, welche Personen als belastet angesehen werden konnten und an welchen Kriterien man das festmachen könnte. Im Einigungsvertrag wurde festgelegt, dass beim Bundesminister des Innern eine Clearingstelle für den Behördenaufbau eingerichtet werden sollte. Diese Stelle sollte, so die Auffassung der Fraktion der CDU/CSU, neben ihrer Kernaufgabe auch Kriterien entwickeln, welche Person im öffentlichen Dienst weiterbeschäftigt werden dürfe und welche nicht. Die SED-Mitgliedschaft allein sollte nicht das ausschlaggebende Kriterium sein, da viele nur in die Partei eingetreten seien, um in der DDR-Verwaltung arbeiten zu können. Letztlich fand diese Zusatzaufgabe hinsichtlich der Clearingstelle keinen Eingang in den Einigungsvertrag.
Jedoch wurde im Einigungsvertrag ein „Grund für eine außerordentliche Kündigung“ festgehalten, wenn der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hatte und bzw. oder für das frühere Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit tätig war „und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint.“ Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Soldaten der Nationalen Volksarmee, die in die Bundeswehr übernommen wurden.
Diese Regelungen galten nur für das Personal, das in Behörden oder anderen öffentlichen Einrichtungen beschäftigt war, die im vereinten Deutschland weitergeführt wurden. Zahlreiche Einrichtungen wurden jedoch im Zuge der deutschen Einheit abgewickelt. Das Personal der betreffenden Stellen wurde in den Wartestand versetzt. Ihm wurde ein Wartegeld von 70% des durchschnittlichen Verdienstes gezahlt. Nach Ablauf einer bestimmten Frist (sechs Monate, für Beschäftigte über 50 Jahre neun Monate) wurde über die Weiterbeschäftigung entschieden. Wenn für die betreffende Person keine Stelle gefunden wurde, endete das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Frist.
Darüber hinaus regelte der Einigungsvertrag auch eine mögliche Kürzung von Renten- bzw. Pensionsansprüchen für Personen, die gegen die Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hatten.
Die Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit konnten laut Einigungsvertrag für die Überprüfung nachfolgender Personengruppen auf Mitarbeit bei der Staatssicherheit herangezogen werden:
- Abgeordnete und Kandidaten für politische Mandate mit Zustimmung der Betroffenen;
- Für die Weiterverwendung von Personen im öffentlichen Dienst mit deren Kenntnis;
- Für die Einstellung von Personen in den öffentlichen Dienst und für Sicherheitsüberprüfungen mit Zustimmung der Betroffenen.
Hinsichtlich des Personals der Justizbehörden der DDR sah der Einigungsvertrag vor, dass DDR-Richterinnen und -Richter nach dem 3. Oktober 1990 vorläufig im Amt blieben. Orientiert am DDR-Richtergesetz vom 5. Juli 1990 bestand ihr Richterverhältnis bis zum 15. April 1991 fort. Bis zu diesem Zeitpunkt entschieden Richterwahlausschüsse über den Fortbestand des Richterverhältnisses.
Dokumente
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Gesetzentwurf der CDU/CSU und der FDP: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Fremdrentenrechts, DS 11/6452, 14.2.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
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Einigungsvertragsgesetz, BGBL 35, 28.9.1990. Mit freundlicher Genehmigung des Bundesanzeiger Verlages.
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