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ELITEN

Zentraler Runder Tisch
1989 – 1990

Im Zuge der Friedlichen Revolution begannen bereits im Herbst 1989 die personellen und politischen Umwälzungen. Nach und nach wurden das Unrecht, die Korruption, die Willkür und der Ämtermissbrauch öffentlich. Viele führende Funktionäre des SED-Regimes waren bereits im Dezember 1989 aus zentralen gesellschaftlichen Positionen verdrängt worden. Die Debatten um einen Elitenwechsel wurden auch am Zentralen Runden Tisch geführt.

Der Machtverfall der SED

Der Machtverfall der SED

Immer mehr Ostdeutsche forderten im Herbst 1989 Reformen und demokratische Grundrechte wie Reise-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Ausgehend von Leipzig demonstrierten bald Hundertausende im ganzen Land und erhöhten den Druck auf das SED-Regime. Gleichzeitig flohen massenhaft Menschen aus der DDR. Um die Macht der Partei zu erhalten, drängte die SED-Spitze Erich Honecker am 18. Oktober 1989 zum Rücktritt. Auch sein Nachfolger Egon Krenz musste nach anhaltender Kritik sein Amt bereits am 7. November 1989 wieder niederlegen. Nach dem Fall der Mauer wurde die letzte nicht-demokratisch legitimierte Regierung unter Hans Modrow durch die Volkskammer eingesetzt. Es folgte eine regelrechte Rücktrittswelle. Am 1. Dezember wurde der Führungsanspruch der SED aus der Verfassung gestrichen. Zwei Tage später löste sich das Zentralkomitee (ZK) der SED auf und das Politbüro mit Egon Krenz als Generalsekretär trat zurück.

  • Demonstrationen nach der Wahl von Egon Krenz am 18. Oktober 1990.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Bild 89_1024_POL_Demo_06/Klaus Mehner.

  • Demonstration nach der „Wahl“ von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden am 18. Oktober 1989. Egon Krenz musste nach anhaltender Kritik sein Amt bereits am 7. November 1989 wieder niederlegen.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Bild-2346_015/Jürgen Nagel.

  • Nach dem Mauerfall versuchte die Einheitspartei SED der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) mit einer Motivationsdemo am 10. November 1989 die Basis bei der Stange zu halten. Die Parteimitglieder verlangten jedoch Veränderungen. Foto (v.l.n.r.): Günter Schabowski (SED), Egon Krenz (SED), Günter Sieber (SED).
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Bild-89_1110_POL_SED-Demo_02/Klaus Mehner.

Nach und nach wurden das Unrecht, die Korruption, die Willkür und der Ämtermissbrauch öffentlich und führten zum weiteren Abrücken, auch innerhalb der verbliebenen SED-Basis. Diskussionen um die Aufklärung von Amtsmissbrauch und Korruption der Eliten rückten bereits im November 1989 in den Vordergrund und zeigten sich auch in den Debatten der Volkskammer der Übergangsregierung Modrow, wo sich am 22. November 1989 u. a. auch ein Untersuchungssauschuss zu diesem Thema gebildet hatte. Der Zentrale Runde Tisch bekräftigte bei seinem ersten Zusammentreten am 7. Dezember 1989 die Notwendigkeit der strafrechtlichen Verfolgung von Amtsmissbrauch und Korruption. Aufgrund von Aufdeckungen von Bestechlichkeit und Ämtermissbrauch kam es im Laufe der Wochen auch immer wieder zu Entlassungen bzw. Rücktritten von Funktionären. Dabei waren es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Staatsapparates, die SED, Justizbehörden und die Volkskammer der Übergangsregierung selbst, die Sondereinheiten und Untersuchungsausschüsse bildeten. Es entstanden jedoch auch unabhängige Untersuchungskommissionen aus dem Umfeld der Bürgerbewegung.

Rainer Eppelmann erinnert sich daran, wie nach der Friedlichen Revolution über Machtmissbrauch und Korruption von SED-Funktionären debattiert und damit umgegangen wurde.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022.

SED-Parteitag im Dezember 1989

Auf dem außerordentlichen Parteitag am 8. und 9. Dezember 1989 versuchte die SED, durch die Umbenennung in Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS), einen Neuanfang zu starten.

Skandale um die Führung offenbarten ein korruptes System, das die SED unter noch größeren Druck setzte. Bis Dezember 1989 verließen 600.000 Mitglieder die SED. Im Januar 1990 hatte über die Hälfte der 2,3 Millionen SED-Mitglieder ihr Parteibuch zurückgegeben. Auf dem außerordentlichen Parteitag am 8. und 9. Dezember 1989 versuchte die SED, durch die Umbenennung in Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS), einen Neuanfang zu starten. Dort stellte sich auch die Frage, ob sich die SED auflösen müsse, oder ob sie sich von innen heraus grundlegend verändern und erneuern ließe. Schließlich entschied sich die breite Mehrheit der Delegierten dafür, dass die Partei bestehen bleiben sollte, sich aber von innen heraus erneuern sollte. Vor allem sollte die Abkehr vom zentralistischen Herrschaftsanspruch des Stalinismus überzeugend in neuen Programmen verankert werden. Aber auch die Sorge um das Parteivermögen und um die Zukunft der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spielte bei dieser Entscheidung eine zentrale Rolle. Die meisten alten Spitzenfunktionäre wie Erich Honecker, Erich Mielke und Willi Stoph schloss man aus der SED-PDS aus. Im Februar 1990 wurde die Partei schließlich in „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS) umbenannt.

Egon Krenz im Gespräch

Dass die Genossen sich am Sonderparteitag der SED gegen eine Auflösung der Partei entschieden, lag auch an der Sicherung des Parteivermögen; v.l.nr. Werner Walde (Bezirksleitung Cottbus), Siegfried Lorenz (Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt), Egon Krenz (SED).

Die Kader in Verwaltung und Wirtschaft

Die Kader in Verwaltung und Wirtschaft

Viele führende Funktionäre des SED-Regimes waren bereits im Dezember 1989 aus zentralen gesellschaftlichen Positionen verdrängt worden. Darüber hinaus legte die Regierung Modrow keinen besonderen Wert auf einen weiteren Elitenwechsel. Die Tendenz, hauptsächlich dem Ministerium für Staatssicherheit die Verantwortung für das SED-Regime zuzuschreiben, zeigte sich auch im Umgang mit den Eliten. Bis Ende März 1990 konnten fast alle der etwa 91.000 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS/AfNS entlassen oder in andere staatliche Institutionen übernommen werden.

Der Rest der insgesamt mehr als 330.000 Nomenklaturkader, das heißt der wichtigsten Eliten aus dem Partei- und Staatsapparat einschließlich der Bereiche Wirtschaft, Polizei, Bildung und Justiz, wurden zunächst vernachlässigt. Auch im Umgang mit dem Personal des Staats- und Verwaltungsapparates wurden erste Umstrukturierungen und durchgreifende Maßnahmen zur Überprüfung dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erst in der letzten freigewählten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière angestoßen. Dabei beschäftigte die DDR nach Schätzungen 1989 etwa 2,25 Millionen Staatsbedienstete in Behörden, Staatsanwaltschaften und an den Gerichten, die von den während der 40jährigen SED-Diktatur entwickelten Mechanismen der Elitenrekrutierung geprägt waren.

Gleichwohl diskutierten in der letzten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 12. März 1990 die Vertreterinnen und Vertreter auf Grundlage verschiedener Vorlagen der AG „Wirtschaft“ sowie des Neuen Forums (NF) den nach wie vor bestehenden Einfluss der SED-Kaderpolitik in den aktuellen Einrichtungen von Wirtschaft und Verwaltung. Sie debattierten dabei u. a., inwiefern die damaligen – noch nach kaderpolitischen Prinzipien der SED eingesetzten – Leiterinnen und Leiter ihre Macht weiterhin ausüben konnten. Sie konstatierten, dass die Gefahr bestünde, dass diese Kader noch vor den Wahlen zur Volkskammer am 18. März durch personalpolitische Weichenstellungen vollendete Tatsachen für eine künftige, ihren Interessen entsprechende Entwicklung schaffen könnten und u. a. den Prozess der Wirtschaftsreformen behinderten bzw. behindern könnten.

Abstimmung am Zentralen Runden Tisch

In der letzten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 12. März 1990 stimmten die Vertreterinnen und Vertreter über Sofortmaßnahmen in der Kaderpolitik ab.

 

Der Zentrale Runde Tisch diskutierte am 12. März 1990 über den bestehenden Einfluss der SED-Kaderpolitik in den aktuellen Einrichtungen von Wirtschaft und Verwaltung in der DDR.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

Mehrheitlich wurde letztendlich beschlossen, die Regierung aufzufordern, die stalinistische Kaderpolitik der vergangenen 40 Jahre aufzubrechen. Kaderleiter aller Einrichtungen der Wirtschaft, der Wissenschaft, des Bildungswesens sowie in den staatlichen Einrichtungen und Verwaltungen seien von ihrer Funktion zu entbinden. Die Festlegungen in den Ministerratsbeschlüssen der Regierung Modrow, die den Generaldirektoren bzw. den zuständigen Ministerien die Eigenverantwortung bei wirtschaftsorganisatorischen Maßnahmen einräumten, seien sofort aufzuheben und bereits getroffene, mit demokratischen Organen nicht abgestimmte, Entscheidungen zu revidieren.

Die letzte geforderte Sofortmaßnahme in diesem Beschluss bezog sich auf die Personalunterlagen. Die Modrow-Regierung hatte am 22. Februar 1990 eine Verordnung zur Arbeit mit Personalunterlagen erlassen, die einem großen Teil der Beschäftigten, den Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten sowie Soldaten die Möglichkeit zur eigenhändigen Tilgung belastender Personalunterlagen eröffnete. Der Runde Tisch forderte, die Vernichtung, Veränderung und Rückgabe von Kaderunterlagen sofort zu beenden. Der Ministerratsbeschluss sollte außer Kraft gesetzt und einheitliche Regelungen zum Umgang mit Kaderakten schnellstens erarbeitet werden. Die geforderten Maßnahmen erhielten zwar eine Mehrheit am Zentralen Runden Tisch, in der praktischen Umsetzung blieb dieser Beschluss jedoch zunächst wirkungslos. Erst auf Grundlage des Einigungsvertrages setzte dann nach der deutschen Einheit eine umfassende Überprüfung von Personal und Bewerbern des öffentlichen Dienstes ein, die von den neuen Bundesländern unterschiedlich gehandhabt wurde.

Sitzung des Zentralen Runden Tisches

Der Zentrale Runde Tisch forderte, die Vernichtung, Veränderung und Rückgabe von Kaderunterlagen sofort zu beenden.

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Die DDR-Justiz: ein Sonderfall

Die DDR-Justiz: ein Sonderfall

Einen Sonderfall im Umgang mit den Eliten stellte die Justiz dar. Die Abhängigkeit von der SED durchzog alle Bereiche der Rechtsprechung: vom Obersten Gericht, dem höchsten Rechtsprechungsorgan der DDR, bis hin zu den Bezirks- und Kreisgerichten. Die meisten Richterinnen und Richter sowie Staatsanwälte und Staatsanwältinnen waren SED-Mitglieder. Auch die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte waren in der DDR nicht unabhängig. Bei der Verteidigung Angeklagter waren ihre Handlungsspielräume oft beschränkt, da die Urteile nicht selten schon im Vorfeld feststanden. Die Umgestaltung des Rechtssystems in der DDR setzte noch während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 ein. Die Übergangsregierung unter Hans Modrow kündigte weitreichende Justizreformen an. Im Vordergrund stand zunächst die Abschaffung des politischen Strafrechts und ein Ende der politischen Strafjustiz, das dem SED-Regime erlaubt hatte, jederzeit gegen kritische Bürger vorzugehen. Die Umsetzung der neuen Gesetzesvorhaben wurde jedoch verzögert. Zum einen verschob die Übergangsregierung Hans Modrow den Erlass neuer Gesetze auf die Zeit nach den bevorstehenden Volkskammerwahlen. Zum anderen war die Bereitschaft zu Veränderungen unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des bislang SED-gelenkten Justizwesens wenig ausgeprägt.

Personelle Konsequenzen gab es zunächst kaum. Bereits in der zweiten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 18. Dezember 1989 verlangte Bernd Gehrke von der Vereinigten Linken (VL) in einer Debatte über den Zustand der DDR-Justiz, dass der verantwortliche Personenkreis der DDR-Justiz, der für Urteile im politischen Strafrecht zuständig war, auszutauschen sei. Damit sollten personelle Kontinuitäten, wie es in der westdeutschen Justiz nach 1945 der Fall war, vermieden werden. Das Neue Forum (NF) hatte in einem Antrag dafür plädiert, dass der damalige amtierende Justizminister Hans-Joachim Heusinger, der Generalstaatsanwalt, die Bezirksstaatsanwälte, die Direktoren der Bezirksgerichte und Staatsanwälte der Abteilung 1a Verantwortung zu übernehmen hätten. Dieser Personenkreis sei aus der Justiz zu entfernen. „Die Justiz muß erkennbar mit der Aufarbeitung ihrer stalinistischen Vergangenheit beginnen“, hieß es im Antrag. Vertreterinnen und Vertreter der alten Kräfte wie Georg Böhm (Demokratische Bauerpartei Deutschlands – DBD) und Gerhardt Wilkening (Christlich Demokratische Union – CDU) und Uta Röth (Unabhängiger Frauenverband – UFV) plädierten hingegen, jede Person einzeln auf ihre Vergangenheit zu überprüfen und dann ggf. aus der Justiz zu entfernen. Es solle zu keiner „Pauschalverurteilung“ kommen. Der Antrag vom Neuen Forum (NF) wurde mit kleinen Änderungen vom Runden Tisch angenommen und an die Arbeitsgruppe „Strafprozess und Strafrecht“ überwiesen.

  • Rolf Henrich vom Neuen Forum (NF) verlas einen Antrag zum „Zustand der Justiz“ in der zweiten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 18. Dezember 1989.
    Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Klaus Freymuth.

  • Am Zentralen Runden Tisch debattierten die Vertreterinnen und Vertreter über den Umgang mit den DDR-Eliten in der Justiz.
    Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Klaus Freymuth.

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Regierung Modrow am Zentralen Runden Tisch

Bereits in der zweiten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 18. Dezember 1989 diskutierten die Vertreterinnen und Vertreter über den Zustand der DDR-Justiz.

Anfang des Jahres 1990 reagierte die Regierung Modrow und entließ den bis dahin amtierenden Justizminister Hans-Joachim Heusinger und ersetzte ihn durch Kurt Wünsche, der dem Ministerium auch unter der Regierung de Maizière vorstand. Ebenfalls im Januar 1990 musste der Präsident des Obersten Gerichtes, Günter Sarge, zurücktreten. Bis zu den Volkskammerwahlen im März 1990 änderte sich die Personalstruktur dennoch nur wenig: Von 1.238 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten schieden bis Ende März 1990 nur 40 aus ihrem Amt aus. Ähnliches galt für die Richterinnen und Richter: Von etwa 1.500 Richterinnen und Richtern der DDR räumten bis Anfang April 1990 lediglich 66 ihren Posten. Noch im Februar 1990 beschloss der Ministerrat eine großzügige Vorruhestandsregelung, die Anreize für ein freiwilliges Ausscheiden setzte. Über eine Rechtsanwaltsverordnung wurde zudem jedem Anwalt/jeder Anwältin die Möglichkeit eingeräumt, eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Für die Juristinnen und Juristen der DDR ergaben sich dadurch neue berufliche Perspektiven.

Manfred Gerlach und Hans-Joachim Heusinger vor Presse

Justizminister Hans-Joachim Heusinger, hier rechts, wurde Anfang Januar 1990 von der Regierung Modrow entlassen. Ersetzt wurde er durch Kurt Wünsche.

Am Zentralen Runden Tisch begründete der Staatssekretär des Justizministeriums Wolfgang Peller am 5. März 1990 dieses Vorgehen u. a. damit, dass der Justizbetrieb in der DDR aufrechterhalten und gewährleistet werden müsse. Das Justizministerium akzeptiere jedoch die Notwendigkeit personeller Konsequenzen bei den Richterinnen und Richtern, die wegen Verhandlungen mit sogenannten politischen Strafverfahren belastet seien. Diese Richterinnen und Richter seien aus ihren Funktionen zu entfernen. Wolfgang Templin (Initiative Frieden und Menschenrechte – IFM) kritisierte in diesem Zuge, dass zum Teil sehr hochbelastete Personenkreise dadurch zum Teil sehr hochdotierte Renten bekommen würden. Die Beteiligten an diesem Justizgeschehen müssten auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

Die Vertreterinnen und Vertreter des Zentralen Runden Tisches unterstützten dennoch weitgehend die Linie des Justizministeriums. Dies zeigt sich auch in einem Beschluss am 5. März 1990, der auf einen Antrag der AG „Recht“ basierte. Darin nahm der Runde Tisch die DDR-Justiz insofern in Schutz, als dass er der Grundeinschätzung des neuen Justizministers Kurt Wünsche zustimmte, wonach es nicht um eine Infragestellung der gesamten Rechtsprechung und der gesamten Richterschaft gehen könne. Sie folgten „der vom Minister der Justiz, Prof. Dr. Kurt Wünsche, getroffene[n] Einschätzung in seiner Erklärung vom 29.1.1990, daß die große Mehrzahl der Verfahren, die Zivil-, Familien- und Arbeitssachen sowie die Straftaten der allgemeinen Kriminalität betrafen, unter Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien durchgeführt worden sind“. Auf der anderen Seite forderte der Runde Tisch die Regierung auf, umgehend Maßnahmen einzuleiten, um aus der Rechtsprechung alle Richterinnen und Richter zu entfernen, die maßgeblich die politische Strafrechtssprechung der DDR angeleitet und ausgeübt hatten. Der Entwurf des Richtergesetzes müsse überdies dringend in der Volkskammer erörtert werden. In diesem Richtergesetz solle u. a. die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter sowie Maßnahmen zur Entfernung belasteter Richterinnen und Richter durch die Regierung festgelegt werden. Dieses Richtergesetz, in der die Überprüfung der Richterinnen und Richter vorgeschrieben und geregelt wurde, wurde dann am 5. Juli 1990 in der neugewählten Volkskammer verabschiedet.

 

Frau Töpfer stellte im Namen der AG „Recht“ am 19. Februar 1990 den „Antrag der AG Recht: Zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit der Gerichte und der Gewährleistung“ am Runden Tisch vor und forderte dringend, dass das Richtergesetz in der Volkskammer erörtert wird.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

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Hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS

Der Umgang mit den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MfS

Nachdem die ersten führenden Funktionäre des SED-Regimes aus ihren Ämtern entfernt worden bzw. selbst zurückgetreten waren, verschob sich der Fokus auch im Bereich des Elitenwechsels auf die Angehörigen des MfS/AfNS. Im Zuge der Forderungen nach der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit stand die Frage im Raum, wie mit den rund 91.000 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MfS/AfNS umzugehen sei. Den Vertreterinnen und Vertretern des Zentralen Runden Tisches war es wichtig, dass es im Zuge der Auflösung zu keinen strukturellen oder personellen Übernahmen des MfS an das Ministerium des Inneren kommen sollte. Eine zentrale Frage war dabei auch, wie die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS in eine demokratische Gesellschaft eingegliedert werden könnten. Der Zentrale Runde Tisch beschloss am 18. Januar 1990 mehrheitlich, basierend auf einem Antrag von Ernst Paul Dörfler von der Grünen Partei, dass die Auflösung und Umstrukturierung des MfS auch mit einem Integrationsprogramm für die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS verbunden werden müsse. Dabei sei sowohl über Lohnfragen als auch über ein Programm zur beruflichen Qualifizierung sowie über ein sozialtherapeutisches Programm zur Eingliederung in die Gesellschaft zu diskutieren. Nur so könnten die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des in der Auflösung befindlichen MfS/AfNS in die Gesellschaft eingegliedert und Radikalisierungen dieser Gruppe durch Abdrängung an den Rand der Gesellschaft verhindert werden.

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Im Abschlussbericht zur Auflösung des MfS/AfNS, der am 12. März 1990 am Zentralen Runden Tisch vorgestellt wurde, wurde ebenfalls deutlich gemacht, dass der Umgang mit der Vergangenheit nur in einer gesellschaftlichen Atmosphäre erfolgen könne, die dem Einzelnen eine Chance zum Neuanfang ließe. Dazu gehöre, dass Menschen offen mit ihrer Vergangenheit umgehen dürften, ohne Angst zu haben, für immer angefeindet und ausgegrenzt zu sein. Dennoch sei es für das künftige Miteinander der Bürgerinnen und Bürger wesentlich, dass die ehemaligen Offiziellen und Inoffiziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich –  unabhängig vom Maß der Verantwortung und von der Art ihrer Tätigkeit – auch der Tatsache stellen müssten, in die verfassungswidrige Arbeit des MfS/AfNS verstrickt gewesen zu sein.

Seit Herbst 1989 gab es immer wieder erregte öffentliche Debatten über das Problem von Rentenzahlungen für ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS. Die Regierung Modrow und die MfS/AfNS-Führung hatten bereits im November 1989 begonnen, über die Versorgung der entlassenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nachzudenken. Neben Regelungen zur vorzeitigen Berentung gab es noch zwei weitere Maßnahmen. Zum einen sollten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht in Rente gingen, für bis zu 36 Monate „Übergangsbeihilfen“ erhalten, mit denen ihr künftiges Einkommen in anderen Arbeitsverhältnissen bzw. als Arbeitslose auf 80 % der bisherigen Nettodienstbezüge aufgestockt werden sollte. Zum zweiten sollten je nach Dienstalter und Dienstverhältnis „gesonderte Übergangsgebühren“ zwischen 600 und 10.500 Mark gezahlt werden. Der Ministerrat der Regierung Modrow bestätigte diese Regelung in ihren Grundzügen am 14. Dezember 1989. Es wurde versucht, diese Bestimmungen vor der Öffentlichkeit geheim zu halten, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS/AfNS wurden zu Sillschweigen verpflichtet.

Der Runde Tisch konnte jedoch im Januar 1990 im Zuge der beginnenden Auflösung des MfS/AfNS diese Zahlungen publik machen, was erheblichen öffentlichen Ärger hervorrief. Bereits am 3. Januar 1990 kritisierten insbesondere Vertreterinnen und Vertreter der neuen Kräfte in einer Sitzung des Zentralen Runden Tisches die Regierung Modrow für Ausgleichszahlungen und Abfindungen, die an ausscheidende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS/AfNS im Zuge des Auflösungsprozesses gingen bzw. gehen sollten. Ingrid Köppe vom Neuen Forum (NF) zweifelte an, dass es sich bei der Vereinbarung um eine gerechte Regelung handeln würde. Gerd Poppe von der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) verwies darauf, dass diejenigen, die unter dem MfS gelitten hätten und ihre Arbeit verloren hätten, niemals eine Entschädigungszahlung erhalten hätten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS sollten eine Chance der Umschulung erhalten, aber er spreche sich gegen eine Fortführung der Privilegien aus. Der Runde Tisch forderte eine Stellungnahme der Regierung zu diesen Zahlungen.

 

Staatsminister Peter Koch versicherte am 8. Januar 1990 in der 6. Sitzung des Runden Tisches, dass wegen der vorliegenden Proteste und Hinweise die bisherigen Regelungen zur Versorgung überprüft und nicht, wie bisher vorgesehen, durchgeführt werden sollen.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

Menschen demonstrieren mit Schildern

Die Belegschaften zahlreicher Betriebe in Jena beteiligten sich am 15. Januar 1990 an einem zweistündigen Warnstreik. Das Einstellen der Zahlung von Überbrückungsgeldern an ehemalige MfS/AfNS Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war eine wesentliche Forderung.

Die Regierung Modrow musste sich schließlich dem politischen Druck des Zentralen Runden Tisches, der Bürgerkomitees und der Öffentlichkeit beugen. Staatsminister Peter Koch versicherte am 8. Januar 1990 in der 6. Sitzung des Runden Tisches, dass wegen der vorliegenden Proteste und Hinweise die bisherigen Regelungen zur Versorgung überprüft und nicht, wie bisher vorgesehen, durchgeführt werden sollten. Die Übergangszahlungen wurden daraufhin zunächst auf 12 Monate begrenzt. Durch anhaltender Proteste entschied die Regierung Modrow dann, die Ausgleichszahlungen ganz zu beenden. Von Ende Februar an hatten MfS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter dann wie alle DDR-Bürger und -Bürgerinnen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Höhe von 70 Prozent des letzten Nettogehaltes, wobei das Arbeitslosengeld nach unten auf 495 Mark und nach oben auf 990 Mark begrenzt wurde. Das gesonderte Rentensystem für die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS, wodurch diesen eine für DDR-Verhältnisse großzügig bemessene Altersversorgung zugesichert worden wäre, wurde jedoch erst durch die letzte und einzig frei gewählte Volkskammer im Juni 1990 aufgehoben.

Bis Ende März 1990 gelang es, nahezu alle 91.000 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS/AfNS zu entlassen oder sie in andere staatliche Institutionen zu übernehmen. Einige Hundert hatten allerdings neue, befristete Arbeitsverträge erhalten, um an der weiteren Abwicklung dieser Institution mitzuwirken. Das waren vor allem Aufgaben des staatlichen „Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS“, wobei davon auszugehen ist, dass das Interesse bei den Kadern des alten Regimes, Verflechtungen zwischen der Stasi und dem Staatsapparat vorbehaltlos aufzudecken, begrenzt war. Strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wurden nach 1990 nur wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. In der vereinigten Bundesrepublik wurden sie häufig in privaten Sicherheitsunternehmen, Detekteien, Versicherungen sowie im Bereich der öffentlichen Beschäftigungsförderung tätig. Etwa 1.500 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden in den Polizeidienst des Bundes und der neuen Länder übernommen. Die Gesamtzahl der ehemaligen MfS-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den öffentlichen Dienst übernommen wurden, ist nach wie vor nicht abschließend bekannt.

Mann hält Plakat hoch.

Auf einem Plakat wurde gegen die Überbrückungsgelder und Ausgleichszahlungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS demonstriert.

Überprüfung der Volkskammerabgeordneten

Die Überprüfung der Volkskammer-abgeordneten auf MfS-Vergangenheit

Kurz vor den Volkskammerwahlen im März 1990 entfachten spektakuläre Enthüllungen aus den Stasi-Unterlagen eine lebhafte Debatte über die Integrität der neuen politischen Akteure. So wurde beispielsweise bekannt, dass der Spitzenkandidat und Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs (DA), Wolfgang Schnur, bereits seit 1965 als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi tätig gewesen war. Ebenfalls im März beendete die Offenlegung seiner Verbindungen zur Staatssicherheit die politische Karriere von Ibrahim Böhme. Er gehörte zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der DDR und war zur Volkskammerwahl als sozialdemokratischer Spitzenkandidat angetreten. Diese Enthüllungen nährten allgemeine Zweifel daran, inwiefern die neu gewählten Volkskammerabgeordneten und Regierungsmitglieder vertrauenswürdig sind. Bereits in der letzten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 12. März 1990 stellte Reinhard Schult im Namen des Neuen Forum (NF) einen Antrag „Zur Überprüfung der ‚neuen Politiker‘ durch eine Parlamentarische Untersuchungskommission“, in der die neugewählten Abgeordneten der Volkskammer auf ihre MfS-Vergangenheit überprüft werden sollten, um die Basis „für ein vertrauensvolles Miteinander von Bevölkerung und neuer Regierung“ zu schaffen. Die parlamentarische Untersuchungskommission sollte, bestehend aus Personen aller in der Volkskammer vertretenen Organisationen und Parteien, unter Beachtung des Personen- und Datenschutzes zu diesem Zweck Einsicht in die Akten erhalten. Dieser Antrag wurde mit deutlicher Mehrheit angenommen. Nach den Wahlen beschloss die Volkskammer bereits in ihrer konstituierenden Sitzung am 5. April 1990 die Einsetzung eines „Zeitweiligen Prüfungsausschusses“, der die Abgeordneten der Volkskammer auf eine frühere Zusammenarbeit mit dem MfS überprüfen sollte.

  • Im März 1990 demonstrierten nach Aufruf des Neuen Forum Menschen in Berlin gegen ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit in der Volkskammer.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Bild-2379_015/Jürgen Nagel.

  • Der Protest zog vom Alexanderplatz zur Volkskammer. Die Demonstranten setzten sich für die Überprüfung aller Abgeordneten auf eine mögliche Tätigkeit für das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit ein.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, 2380_004/Jürgen Nagel.

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