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ERINNERUNG

Bundestag 1989 – 1990

Was bleibt von der Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung? Wie wurde in den Jahren 1989 und 1990 im Bundestag über die deutsche Vergangenheit debattiert? Welche erinnerungskulturellen Narrative und welche Streitpunkte in der Bewertung der Geschichte spielten eine Rolle? Welche Daten waren Anlass, an Vergangenes zu erinnern? Wie ging man mit künstlerischen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus um und wie mit Grenzen, die durch den Zweiten Weltkrieg entstanden waren?

Der Umgang mit NS-Kunst

Der Umgang mit künstlerischen und baulichen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus

Im Juni 1989 fand im Bundestag eine Debatte zum Umgang mit der NS-Kunst statt. Das heißt konkret mit der Kunst, die durch das NS-Regime gefordert und gefördert worden war. Anlass für die Debatte war eine Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN vom 8. Juli 1988, der eine ausführliche Antwort der Bundesregierung im April 1989 folgte. Kern des Anliegens der GRÜNEN war die Frage nach dem Umgang mit „Exponaten, Filmen, Bauwerken und Denkmälern offizieller NS-Kunstpolitik“. Eine Debatte zu diesem Thema sei „überfällig“ und sollte zwei inhaltliche Schwerpunkte enthalten: Einerseits müsse man sich sowohl ästhetisch als auch politisch mit der NS-Kunst auseinandersetzen und andererseits müssten die durch das Nazi-Regime verfolgten Künstlerinnen und Künstler rehabilitiert und entschädigt werden. DIE GRÜNEN kritisierten, dass die NS-Kunst in den Kellern der Museen verborgen bleibe. Stattdessen müsse sie gezeigt, erklärt und somit „entdämonisiert“ werden. Eine Ausstellung, die NS-Kunst der modernen Kunst, die während des Nationalsozialismus als „entartet“ galt, gegenüberstellen würde, könnte der kritischen Aufarbeitung dieses Kapitels der deutschen Geschichte dienen. Wie notwendig eine gesellschaftliche Debatte über dieses Thema sei, hätten insbesondere die Erfahrungen einer Ausstellung zur sogenannten „entarteten Kunst“ in München 1987 gezeigt. Einträge im Gästebuch der damaligen Ausstellung ließen erkennen, dass die durch die Nazis vorgenommene Entwertung der modernen und abstrakten Kunst in manchen Köpfen fortlebe und auch den heutigen Umgang mit moderner Kunst beeinflusse.

Zu diesem Themenkomplex hatte die Fraktion insgesamt 38 Fragen formuliert, die von der Bundesregierung beantwortet wurden. Einzelne Fragen widmeten sich zudem dem aktuellen Umgang mit Kunst, den Kriterien der öffentlichen Kunstförderung und der daraus möglicherweise resultierenden Einschränkung der Kunstfreiheit.

Die Debatte im Bundestag beschäftigte sich hauptsächlich mit der Frage: Soll NS-Kunst ausgestellt werden? Aus dem Redebeitrag der GRÜNEN ging jedoch hervor, dass sie mit ihrer Anfrage auch das Ziel verfolgten, generell für die „Benutzung und den Mißbrauch der Ästhetik durch die Politik“ zu sensibilisieren. Aus der Beschäftigung mit der Instrumentalisierung von Kunst und Medien während des Nationalsozialismus könne auch eine präventive Wirkung zur Sicherung der Demokratie resultieren. DIE GRÜNEN hatten im Vorfeld versucht, im Bundestag eine Ausstellung, in der die NS-Kunst der ehemals als „entartet“ diffamierten modernen Kunst gegenübergestellt werden sollte, zu eröffnen. Dies sei jedoch abgelehnt worden, da die Ausstellungsfläche bereits durch eine Darstellung zur vierzigjährigen Geschichte der Bundesbahn besetzt gewesen sei.

Die CDU/CSU und die SPD vertraten die Ansicht, dass die NS-Kunst weitestgehend als Trivialkunst anzusehen sei und somit nicht in Kunstmuseen ausgestellt werden sollte. Man könne sie jedoch als historische Quelle mit einem pädagogischen Konzept in Geschichtsmuseen, wie etwa dem sich in Gründung befindlichen Deutschen Historischen Museum, der Öffentlichkeit präsentieren. Auch die wissenschaftliche Arbeit mit dem Thema müsse unterstützt werden.

Die FDP erklärte, dass die Fragen der GRÜNEN völlig an der „Ausstellungs-, Förderungs- und Kaufrealität“ vorbeigingen. Auf dem Kunstmarkt werde entschieden, welche Kunst „gut“ oder „schlecht“ sei. Die im Nationalsozialismus als „entartet“ bezeichnete Kunst erziele hier Höchstpreise, somit könne auch nicht die Rede davon sein, dass diese Kunst nicht rehabilitiert sei. Die NS-Kunst vom freien Markt fernzuhalten (auch dies war ein Aspekt der Anfrage der GRÜNEN) käme einer Zensur gleich. Eine Aufbereitung der NS-Kunst in einem pädagogischen Konzept unterschätze den „mündigen Bürger“, der durchaus zur Einordnung in der Lage sei.

Die Frage einer Rehabilitierung oder Entschädigung der durch die Nationalsozialisten verfolgten Künstlerinnen und Künstler wurde in der Debatte nicht weiter erörtert. Die Bundesregierung hatte in ihrer Antwort jedoch darauf hingewiesen, dass Künstlerinnen und Künstler gemäß dem Bundesentschädigungsgesetz Anspruch auf Entschädigung hätten. Außerdem seien sie und ihre Kunst längst durch ein starkes öffentliches Interesse rehabilitiert.

  • „Wir fordern eine Entdämonisierung der Nazikunst als emanzipatorischen Akt einer Gesellschaft, die die Freiheit der Kunst nicht durch staatliche Zensur, sondern durch selbstbewußte Individuen garantieren möchte. Dafür aber brauchen wir öffentliche Diskurse. Mit dieser Debatte wollten wir genau einen solchen beginnen. Er ist auch nicht von Regierungen zu leisten, sondern Thema der Öffentlichkeit.“

    Antje Vollmer (DIE GRÜNEN),
    Deutscher Bundestag, 11/151, 21.6.1989, S. 11397.
  • „Weder Rehabilitierung noch […] Entdämonisierung können meines Erachtens hinsichtlich dieser Kunstprodukte Aufgabe der Kulturförderung der Bundesregierung und des Bundestages sein. Diese Produkte sind, ich sagte es schon, meistens im wesentlichen trivial und wenig oder gar nicht dämonisch. Wichtig aber ist nun, daß […] die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Epoche unserer Geschichte auf kultureller Basis verstärkt wird.“

    Roswitha Wisniewski (CDU/CSU),
    Deutscher Bundestag, 11/151, 21.6.1989, S. 11398.
  • „Wir Liberale plädieren für einen absolut freien und unbefangenen Umgang mit aller Art von Kunst, selbst wenn sie auf Ablehnung stößt, was allen Großen und allen Neueren geschehen ist. Um die Moderne brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Hier gibt es durchaus Ablehnung. Aber mit der können wir leben. Denn auf der anderen Seite […] stürmen die Menschen heute geradezu die Ausstellungen der klassischen, aber auch der avantgardistischen Moderne. Deshalb meinen wir, wir sollten den Kampf mit den Gartenzwergen und Gespenstern ruhig aufnehmen.“

    Ingrid Walz (FDP),
    Deutscher Bundestag, 11/151, 21.6.1989, S. 11400.
  • „Man sollte diese Kunst eher in einem historischen Museum zeigen, möglicherweise im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Man sollte sie auch erklären und ihre Funktion, ihre Indienstnahme für die Propaganda zeigen. Man sollte auch das Menschenbild deutlich machen, das hinter dieser Kunst steht. Dann wirkt es aufklärerisch. Sie zu verstecken, sie nicht zu zeigen macht sie möglicherweise gerade erst interessant, gibt ihr einen geheimnisvollen Charakter. Deswegen plädiere ich sehr nachdrücklich dafür, diese Kunst in Sonderschauen, in historischen Museen selbstbewußt zu zeigen und deutlich zu machen, was ihre Funktion war.“

    Peter Conradi (SPD),
    Deutscher Bundestag, 11/151, 21.6.1989, S. 11401.
  • Adolf Hitler und Hermann Göring besuchen anlässlich des „Tages der Deutschen Kunst“ 1937 eine Ausstellung in München.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild-183-C10110 / o. Ang.

  • Ein typisches Bauwerk der NS-Zeit: Die von Albert Speer erbaute neue Reichskanzlei in Berlin.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1979-105-02 / Hoffmann, Heinrich

  • Plastik „Partei“ von Arno Breker im Hof der neuen Reichskanzlei.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-H27141 / o. Ang.

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40 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Beginn des Zweiten Weltkrieges

40 Jahre Bundesrepublik –
50 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs

Das Jahr 1989 stand im Zeichen mehrerer Jahrestage. Die Gründung der Bundesrepublik jährte sich zum 40. Mal. Doch das Jahr 1989 bedeutete auch 75 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkriegs und 50 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs.

In einem Antrag forderte die SPD den Bundestag zu dem Beschluss auf, „in angemessener und würdiger Form an den im Jahr 1989 anstehenden 75. Jahrestag des Ausbruches des Ersten Weltkrieges und an den 50. Jahrestag des Ausbruches des Zweiten Weltkrieges zu erinnern.“ Die Vorstellung, durch intensive Vorbereitungen der 40-Jahr-Feier zum Bestehen der Bundesrepublik könne man die Erinnerung an den Ausbruch der beiden Weltkriege verdecken, wäre „fatal“. Den Opfern sei man eine „würdige Form der Erinnerung“ schuldig.

In der Debatte am 19. Januar 1989 begrüßte die SPD, dass der Bundeskanzler zum 1. September 1989 – dem 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen – eine Gedenkrede im Bundestag halten werde. Der Kriegsbeginn sei – so die SPD – bisher nie in großen Bundestagsdebatten thematisiert worden. Überhaupt sei das Parlament erst mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 – zum Jahrestag des Kriegsendes – zu einem Ort des Nachdenkens über die Geschichte geworden. Die SPD schlug vor, den polnischen Ministerpräsidenten Mieczysław Rakowski zu der Gedenkstunde einzuladen. Man könnte den 1. September 1989 auch aus Anlass des Jahrestags des deutschen Überfalls auf Polen als „Antikriegstag der Deutschen“ begehen.

DIE GRÜNEN kritisierten am Antrag der SPD die Verwendung des Begriffs „Ausbruch“ für beide Weltkriege. Kriege brächen nicht einfach aus, sondern hätten ihre Ursache in einer bestimmten Politik. Darauf müsse man den Fokus legen. Überhaupt solle man über Gedenktage nachdenken. Antje Vollmer (DIE GRÜNEN) regte an, statt des 17. Juni (der als Nationalfeiertag an den gescheiterten Volksaufstand in der DDR im Jahr 1953 erinnerte) lieber den 1. September als „Antikriegstag“ zu begehen. Der 50. Jahrestag des Überfalls auf Polens sei ein gutes Datum, um die Entschädigung der ehemaligen NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter in die Wege zu leiten.

Auch vonseiten der FDP wurde Kritik am Antrag der SPD laut. Man könne den Ersten und den Zweiten Weltkrieg nicht auf die Weise gleichsetzen, wie es der SPD-Antrag täte. Gedenkveranstaltungen alleine seien dem Anlass nicht angemessen. Daher regte Wolfgang Lüder (FDP) an, die wissenschaftliche Aufarbeitung des deutsch-polnischen Verhältnisses und des Ausbruchs der Kriege zu fördern sowie eine Ausstellung zum polnischen Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte zu zeigen. Den Vorschlag, den 1. September als „Antikriegstag“ zu begehen, lehnte er ab.

Die Bundesregierung beteuerte, dass in den geplanten Veranstaltungen zum 40. Jubiläum der Bundesrepublik auch die Geschichte der Kriege und der Lehren aus der Vergangenheit miteinbezogen würden. Außerdem sei eine Reise des Bundeskanzlers nach Polen geplant.

  • Freimut Duve (SPD) spricht am 19.1.1989 im Bundestag über das Gedenken an den Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
    Quelle: Deutscher Bundestag

  • Heinrich Krey (CDU/CSU) spricht am 19.1.1989 im Bundestag über das Gedenken an den Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
    Quelle: Deutscher Bundestag

  • Wolfgang Lüder (FDP) spricht am 19.1.1989 im Bundestag über das Gedenken an den Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
    Quelle: Deutscher Bundestag

  • Egon Lutz (SPD) spricht am 19.1.1989 im Bundestag über das Gedenken an den Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
    Quelle: Deutscher Bundestag

  • Antje Vollmer (DIE GRÜNEN) spricht am 19.1.1989 im Bundestag über das Gedenken an den Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
    Quelle: Deutscher Bundestag

  • Horst Waffenschmidt (Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern) spricht am 19.1.1989 im Bundestag über das Gedenken an den Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
    Quelle: Deutscher Bundestag

Im Juni legte der Innenausschuss seine Beschlussempfehlung zum Antrag der SPD vor. Der Bundestag solle einer Entschließung zustimmen, dass sich das Gedenken an den 1. September 1939 und an den August 1914 an der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 orientieren solle. Darüber hinaus solle der Bundestag begrüßen, dass in die Veranstaltungen und Ausstellungen zum 40. Jahrestag der Bundesrepublik die beiden Weltkriege und ihre Folgen miteinbezogen würden. Die Bundesregierung solle Bundesbehörden und nachgeordnete Einrichtungen dazu veranlassen, dem 1. September in „angemessener Weise“ Rechnung zu tragen. Das Gedenken an die beiden Weltkriege solle auch im Rahmen der Veranstaltung „Jugend und Parlament“ behandelt werden. Der Kontakt mit polnischen Bürgerinnen und Bürgern solle intensiviert werden. Des Weiteren solle der Bundestag das Vorhaben des Bundeskanzlers, am 1. September 1989 eine Regierungserklärung abzugeben, an die sich eine Debatte zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg anschließen könne, begrüßen. Die Beschlussempfehlung wurde ohne weitere Debatte angenommen.

  • „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland sind Anlaß zu Feiern, für die die Bundesregierung ein umfangreiches Programm entwickelt hat. Sie sind aber auch Anlaß zu der Erkenntnis, daß sich die Bundesrepublik Deutschland bei der Aufarbeitung ihrer Geschich[t]e 40 Jahre Verspätung geleistet hat. Wie denn sonst hätten Rechtsradikalismus, Neonazismus und Fremdenhaß in dem heutigen Umfang wieder aufleben können, ganz abgesehen von der Ermutigung, die diese ewig Gestrigen immer wieder durch führende Politiker und Rechtsintellektuelle erfahren dürfen?“

    Doris Odendahl (SPD),
    Deutscher Bundestag, 11/125, 16.2.1989, S. 9143.
  • „Wir erinnern uns in diesem Jahr ja nicht nur der Gründung der Bundesrepublik Deutschland vor vierzig Jahren, sondern wir erinnern uns auch an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor fünfzig Jahren. Bei dieser Gelegenheit wird […] einmal mehr sichtbar: Wir müssen — und wir werden — unsere Geschichte als Ganzes annehmen, mit den guten, aber auch mit den schrecklichen Seiten.“

    Helmut Kohl (Bundeskanzler),
    Deutscher Bundestag, 11/125, 16.2.1989, S. 9130.
  • „Nur wer um die Verantwortung für das weiß, was Deutschland durch den Überfall auf Polen vor 50 Jahren und die ihm folgenden unverantwortlichen Kriegshandlungen auf sich genommen hat, erfährt auch den Freiraum zur Freude über 40 Jahre freiheitliche Staatlichkeit wenigstens in einem Teil Deutschlands.“

    Wolfgang Lüder (FDP),
    Deutscher Bundestag, 11/119, 19.1.1989, S. 8805.

In der Gedenkstunde am 1. September 1989 wurde dann der Zweite Weltkrieg von allen Fraktionen und der Bundesregierung verurteilt. Die Fraktionen betonten jedoch verschiedene Aspekte und zogen teilweise unterschiedliche Lehren aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.

Bundeskanzler Helmut Kohl eröffnete die Debatte. Er ging in seiner Rede auf verschiedene Opfergruppen ein und betonte auch ausdrücklich die deutschen Opfer des Kriegs. Aus der Geschichte leitete er eine besondere Verantwortung der Deutschen ab. Die Geschichte lehre, dass es zwischen Demokratie und Diktatur keinen Zwischenweg geben könne und dass Rechtsstaat und Demokratie verteidigt werden müssten. Nur sie garantierten Freiheit und Recht. Es ginge darum, sich mit anderen Staaten, insbesondere mit Polen, auszusöhnen und auf Dauer eine bessere und friedliche Welt zu schaffen. Kohl verurteilte den „Hitler-Stalin-Pakt“ und betonte, dass die Vereinbarungen von 1939 für die Bundesrepublik nicht rechtsgültig seien.

Alfred Dregger (CDU/CSU) erklärte in seiner Rede, dass Hitler zwar den Zweiten Weltkrieg entfesselt habe, Stalin habe dies aber durch den gemeinsamen Pakt ermöglicht und auch die anderen europäischen Mächte hätten es nicht vermocht, „eine gerechte und menschenwürdige Friedensordnung für Europa zu schaffen und zu erhalten“. Diese Ansicht wurde von den Fraktionen der SPD, der FDP und der GRÜNEN zurückgewiesen. Auch der „Hitler-Stalin-Pakt“ ändere nichts an der alleinigen Schuld der Deutschen am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Hitler habe den Krieg geplant und Stalin habe die Situation für sich genutzt.

Auch Dregger erklärte, dass es zu einer Aussöhnung mit Polen kommen müsse. Aufgrund des Schicksals der deutschen Heimatvertriebenen, denen großes Unrecht zuteilgeworden sei, sei die Aussöhnung mit Polen ungleich schwerer als die bereits in der Nachkriegszeit erfolgte Aussöhnung mit Frankreich. Als einziger Redner unterstrich Dregger die seiner Auffassung nach große Bedeutung der Nation für den einzelnen Menschen, die ihm Rückhalt und Heimat gebe. Nation und Demokratie gehörten zusammen, das zeigten – so Dregger – auch die aktuellen demokratischen Bewegungen in Polen, Ungarn und Moldau.

Willy Brandt (SPD) unterstrich, dass die große Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg in einem „geläuterten Friedenswillen“ der Deutschen zum Ausdruck komme. Die Antwort auf gegenwärtige rückwärtsgewandte „Versuchungen“ liege darin, „mit noch größerer Hingabe für Europa“ zu arbeiten.

Helmut Lippelt (DIE GRÜNEN) betonte, dass die Schuld am Zweiten Weltkrieg fast die gesamte deutsche Gesellschaft durchdrungen habe. Man dürfe auch die Augen nicht vor der Rolle der Wehrmacht verschließen, in deren Schatten die Vernichtungslager erst möglich geworden seien.

Für Otto Graf Lambsdorff (FDP) lag die Relevanz des Erinnerns darin, Frieden, Wohlstand und politische Freiheit nicht als selbstverständlich wahrzunehmen, sondern als kostbares Gut, das man verteidigen müsse. Die alles entscheidende Frage „Wie konnte das geschehen?“ sei nicht primär mit dem 1. September 1939 verbunden, sondern mit dem 30. Januar 1933 ­ der Machtübertragung an die Nationalsozialisten.

Im Rahmen der Debatte wurde auch ein Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP, der den Willen zur weiteren Aussöhnung mit Polen und zur Erfüllung des Warschauer Vertrags von 1970 „nach Buchstaben und Geist“ zum Ausdruck brachte, verabschiedet. Ein Antrag der SPD, der den dauerhaften Bestand der polnischen Westgrenze bekräftigen sollte, wurde abgelehnt.

  • „Liebe zum Vaterland und Liebe zur Freiheit, Patriotismus und europäische Gesinnung dürfen allerdings nie wieder getrennte Wege gehen. Das ist die Konsequenz, die wir gemeinsam ziehen müssen.“

    Helmut Kohl (Bundeskanzler),
    Deutscher Bundestag, 11/154, 1.9.1989, S. 11632.
  • „Ich finde es im ganzen ermutigend, daß bei allem sonstigen Wandel jenes doppelte Nein lebendig geblieben ist, das uns Ältere zusammenführte, als nach 1945 unser staatliches Notdach zu errichten war. Ich meine mit dem doppelten Nein das ‚Nie wieder‘ zu deutscher Schuld an Überfällen, kriegerischer Verwüstung oder gar Völkermord und das andere ‚Nie wieder‘ zur Knebelung des eigenen Volkes und zu dessen Selbstentmündigung. Das Versprechen und die Entschlossenheit […], von deutschem Boden nie mehr Krieg ausgehen zu lassen, sollten richtig verstanden werden, nämlich als Ausdruck eines geläuterten Friedenswillens.“

    Willy Brandt (SPD),
    Deutscher Bundestag, 11/154, 1.9.1989, S. 11633.
  • „Es war Hitler, der, nachdem er die Macht in Deutschland an sich gerissen hatte, den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Und es war Stalin, der das durch den Pakt mit Hitler ermöglicht hat. […] Aber auch die alten Führungsmächte und die alten Führungsschichten Europas, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, hatten es nicht vermocht, eine gerechte und menschenwürdige Friedensordnung für Europa zu schaffen und zu erhalten.“

    Alfred Dregger (CDU/CSU),
    Deutscher Bundestag, 11/154, 1.9.1989, S. 11637.
  • „Kein noch so verbrecherischer „Hitler-Stalin-Pakt“ kann die Schuld auf mehrere Schultern verlagern. Zu deutlich waren die Rollen aufgeteilt zwischen dem seinen Kampf planenden deutschen Aggressor und dem die Situation zu eigenen Zwecken ausnutzenden sowjetischen Diktator.“

    Helmut Lippelt (DIE GRÜNEN),
    Deutscher Bundestag, 11/154, 1.9.1989, S. 11641.
  • „Die immer wieder erhobene Frage: Wie konnte es geschehen? ist keine Frage, die an den 1. September 1939 anknüpfen kann. Sie gehört zu einem früheren Datum, zum 30. Januar 1933.“

    Otto Graf Lambsdorff (FDP),
    Deutscher Bundestag, 11/154, 1.9.1989, S. 11644.
 

Bundeskanzler Helmut Kohl spricht am 1.9.1989 im Bundestag zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Quelle: Deutscher Bundestag

 

Willy Brandt (SPD) spricht am 1.9.1989 im Bundestag zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Quelle: Deutscher Bundestag

 

Alfred Dregger (CDU/CSU) spricht am 1.9.1989 im Bundestag zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Quelle: Deutscher Bundestag

 

Helmut Lippelt (DIE GRÜNEN) spricht am 1.9.1989 im Bundestag zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Quelle: Deutscher Bundestag

  • Der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop unterzeichnet am 28.9.1939 in Anwesenheit u.a. des sowjetischen Diktators Josef Stalin und des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow (im Bild hinter dem Unterzeichnenden) den deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag, eine Ergänzung zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, dessen geheimes Zusatzprotokoll die Aufteilung Polens zwischen dem deutschen Reich und der Sowjetunion besiegelte. Bereits am 1.9.1939 hatten deutsche Truppen Polen überfallen. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-S52480 / o. Ang.

  • Deutscher Überfall auf Polen am 1.9.1939: Deutsche Soldaten zerstören den Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-51909-0003 / Sönnke, Hans

  • Deutscher Überfall auf Polen am 1.9.1939: Die Danziger Landespolizei und deutsche Soldaten entfernen Hoheitszeichen vom polnischen Zollhaus an der Polnisch-Danziger Grenze.
    Bundesarchiv, Bild 183-E10458 / Sönnke, Hans

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Der lange Weg zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze

Der lange Weg zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze

Ein Resultat des Zweiten Weltkriegs war der Verlust der ehemaligen deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße. Obwohl bereits 1970 im Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen vereinbart worden war, dass die bestehende Grenzlinie an Oder und Neiße die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildete und dass beide Seiten keinerlei Gebietsansprüche erheben würden, beschäftigte sich der Bundestag 1989 und 1990 in mehreren Sitzungen mit der polnischen Westgrenze. Eine völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der Grenze stand immer noch aus, da nach wie vor der „Vorbehalt der Vier Mächte“ für „Deutschland als Ganzes“ galt und die Bundesrepublik somit keine völkerrechtwirksamen Regelungen hinsichtlich der Grenzsituation vornehmen konnte.

Seitens der Oppositionsfraktionen wurden 1989 und 1990 immer wieder Entschließungsanträge vorgelegt, die den Bundestag dazu aufriefen, den Bestand der polnischen Westgrenze zu bekräftigen. Dies sollte vor allem der Vertrauensbildung dienen und den Reformprozess in Polen, das sich 1989 von kommunistischer Herrschaft befreit hatte, nicht verunsichern.

Der Bestand der polnischen Westgrenze wurde auch von den Koalitionsfraktionen nicht bestritten. Innerhalb der Fraktion der CDU/CSU gab es jedoch auch andere Meinungen. Ende der 1980er-Jahre waren Vertriebenenverbände und ostdeutsche Landsmannschaften in der Bundesrepublik noch immer aktiv, sie vertraten jedoch zu dieser Zeit immer mehr eine rechtskonservative Minderheit der Heimatvertriebenen. Innerhalb der CDU/CSU gab es eine Gruppe von Abgeordneten, die sich als parlamentarische Vertretung der Vertriebenenverbände und ostdeutschen Landsmannschaften verstand und hinsichtlich der Oder-Neiße-Grenze eine ablehnende Haltung vertraten. Öffentlichkeitswirksam war etwa eine Rede des Bundesfinanzministers und CSU-Vorsitzenden Theo Waigel, der auf dem Deutschlandtreffen der Schlesier im Sommer 1989 die Gebiete jenseits von Oder und Neiße zum Teil der deutschen Frage erklärt hatte. Dieser Auftritt wurde von den Oppositionsfraktionen im Bundestag stark kritisiert.

Anfang November 1989 stand ein Staatsbesuch Helmut Kohls in der Volksrepublik Polen an. Im Vorfeld brachte die SPD einen Entschließungsantrag ins Parlament ein, der den Bundestag dazu aufrief, das Recht der Polen, in sicheren Grenzen zu leben, zu bekräftigen und zu bestätigen, dass dieses von den Deutschen weder gegenwärtig noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt werden würde. Die Unverletzbarkeit der Grenze sei die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben in Europa. Es folgte ein Entschließungsantrag der CDU/CSU und der FDP, der den Text des SPD-Antrags wortgleich übernahm, jedoch noch einen Absatz hinsichtlich des Festhaltens am Warschauer Vertrag und des noch ausstehenden abschließenden Friedensvertrags enthielt. Auch DIE GRÜNEN legten einen Entschließungsantrag vor. Dieser rief den Bundestag zu der Erklärung auf, „daß er im Interesse einer zukünftigen europäischen Friedensordnung eine Wiederherstellung eines gesamtdeutschen Nationalstaats in den Grenzen von 1937 jetzt und in Zukunft nicht anstreben wird. Die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens ist für jede deutsche Staatsgewalt unantastbar.“

Der Antrag der Koalition wurde am 8. November 1989 mit 400 Ja-Stimmen und 33 Enthaltungen gegen 4 Nein-Stimmen angenommen. Der Antrag der GRÜNEN wurde abgelehnt. Da der Antrag der SPD im Antrag der Koalitionsfraktionen aufging wurde über ihn nicht mehr abgestimmt.

Zur Abstimmung hatten 27 Abgeordnete der CDU/CSU eine Erklärung abgegeben. Hierin stellten sie dar, dass es „kein völkerrechtlich wirksames Dokument zur Abtrennung von 108 000 Quadratkilometern von Deutschland“ gebe, gegenwärtig bestehe „Deutschland rechtlich im Gebietsstand von 1937 nach Staats- und Völkerrecht fort“. Daran habe auch der Warschauer Vertrag nichts geändert. Die 27 Abgeordneten erklärten, dass sie lediglich die Verpflichtung sähen, „Gebietsansprüche an Polen, die über den weiterhin unveränderten Gebietsstand von 1937 hinausgehen, nicht zu erheben“. Polen solle vor friedensvertraglichen Verhandlungen keine Grenzanerkennungsansprüche an Deutschland stellen. Ein tragbarerer Ausgleich mit Polen müsse geschaffen werden und niemand dürfe unterdrückt oder vertrieben werden. Berechtigte Interessen Deutschlands müssten ebenso berücksichtigt werden, wie die „Achtung der Würde, der Existenz und der Entfaltung der Polen in einem freien polnischen Staatswesen in noch auszuhandelnden sicheren Grenzen“.

Kohls Polenreise im November 1989 hatte eine mehrseitige gemeinsame Erklärung des Bundeskanzlers und des ersten nicht kommunistischen Ministerpräsidenten Polens, Tadeusz Mazowiecki, am 14. November 1989 zum Resultat. Teil dieser Erklärung war – und das war für die bundesdeutsche Seite besonders entscheidend – die Versicherung, dass die auf polnischem Gebiet lebenden Deutschen ihre kulturelle Identität wahren und entfalten dürften. Das war insbesondere für die Gruppe der Heimatvertriebenen ein zentrales Anliegen.

Einen Tag später, am 15. November 1989, stellten die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP einen Entschließungsantrag, der diese gemeinsame Erklärung begrüßte. Einem Wunsch des polnischen Parlaments entsprechend stellten diese drei Fraktionen noch einen weiteren Antrag, der den „Hitler-Stalin-Pakt“ von 1939 verurteilte. Auch DIE GRÜNEN hatten schon einige Wochen zuvor einen ähnlichen Entschließungsantrag vorgelegt.

Am 16. November 1989 war der Polenaufenthalt des Bundeskanzlers auch Thema der Beratungen des Bundestags. Helmut Kohl berichtete in seiner Rede von den einzelnen Stationen der mehrtägigen Reise, die unter anderem einen Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau beinhaltet hatte. Auch ein Besuch in Kreisau, wo sich Widerstandskämpfer gegen Hitler im Gut des Grafen Moltke zusammengefunden hatten, war Teil der Reise. Kohl und Mazowiecki hatten vereinbart, in Kreisau eine internationale Begegnungsstätte einzurichten, wo sich die Jugend Europas – insbesondere Deutschlands und Polens – künftig austauschen könnte.

Die SPD begrüßte zwar die gemeinsame Erklärung, sie kritisierte jedoch, dass die Entschließung, die der Bundestag vor der Polenreise verabschiedet hatte, nicht wörtlich in die gemeinsame Erklärung eingeflossen sei. Auch die Problematik um die Entschädigung der polnischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sei bei der Polenreise nicht geklärt worden. Letztere Kritik wurde auch von den GRÜNEN geteilt, auch sie hätten sich klarere Worte des Bundeskanzlers zur polnischen Westgrenze gewünscht. Auch der Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau sei missglückt, so der Abgeordnete Helmut Lippelt (DIE GRÜNEN): „Von Ihrem eiligen Gang durch Auschwitz möchte ich schweigen. Laufende Busmotoren an diesem Ort. Wären Sie doch besser ganz weggeblieben.“

  • Helmut Kohls Polenreise im November 1989 führte ihn auch zur Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
    Quelle: picture-alliance/ dpa | Martin Athenstädt

  • Helmut Kohl bei einer Kranzniederlegung in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im November 1989.
    Quelle: picture-alliance/ dpa | Martin Athenstädt

  • Bundeskanzler Helmut Kohl begrüßt Marek Edelmann, den letzten Überlebenden des Warschauer Ghettos, aufgenommen im November 1989.
    Quelle: picture-alliance/ dpa | Martin Athenstädt

  • Helmut Kohls Polenreise diente auch dem Austausch mit Lech Wałęsa, Vorsitzender der Solidarność und Initiator des Runden Tisches in Polen.
    Quelle: picture-alliance / dpa | Martin Athenstädt

  • Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Premier Tadeusz Mazowiecki.
    Quelle: picture alliance/United Archives | Sven Simon

  • Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Premier Tadeusz Mazowiecki bei der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung.
    Quelle: picture alliance/United Archives | Sven Simon

  • Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Regierungschef Jerzy Buzek assistieren einem Mädchen und einem Jungen, die am 11.6.1998 bei der Eröffnung der internationalen Begegnungsstätte im niederschlesischen Kreisau (Krzyzowa) ein Band durchschneiden. Die Gründung der Begegnungsstätte geht auf die Gemeinsame Erklärung zwischen Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki aus dem November 1989 zurück. Quelle: picture-alliance / dpa | epa Janek Skarzynski

  • Auf dem Rasen vor der internationalen Begegnungsstätte im polnischen Kreisau (Krzyzowa) sitzen Jugendliche aus Deutschland, Polen und Tschechien. Die Gründung der Begegnungsstätte ging auf die Gemeinsamen Erklärung zwischen Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki aus dem November 1989 zurück. Aufnahme aus dem Jahr 1998. Quelle: picture-alliance / ZB | Petko Teuchertv

Durch den Fall der Mauer am 9. November 1989 und die sich immer deutlicher abzeichnende deutsche Einheit wuchs in Polen die Angst, dass eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch mit deutschen Gebietsansprüchen jenseits der Oder-Neiße-Grenze einhergehen könnte. Das Thema wurde also immer brisanter und stand am 8. März 1990 erneut auf der Tagesordnung des Bundestags. Es wurde über drei Anträge (ein Antrag der Koalitionsfraktionen, ein Antrag der SPD und ein Antrag der GRÜNEN) beraten, die im Kern dasselbe Ziel verfolgten: Nach der ersten freien und demokratischen Wahl in der DDR sollten die freigewählte Volkskammer und der Bundestag eine gleichlautende Erklärung abgeben. Bei deren Formulierung handelte es sich um die vom Bundestag im November 1989 verabschiedete Entschließung:

„Das polnische Volk soll wissen, daß sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.“

Im Vorfeld hatte bereits der Zentrale Runde Tisch in der DDR eine gemeinsame Erklärung beider deutscher Staaten gefordert.

Im Gegensatz zum Antrag der Koalitionsfraktionen fordert der Antrag der SPD eine „Garantie der polnischen Westgrenze“ und der Antrag der GRÜNEN sprach von einer „Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze“.

Die Bundestagsdebatte war geprägt von heftiger Kritik seitens der beiden Oppositionsfraktionen GRÜNE und SPD. Die Anerkennung der polnischen Westgrenze an den Verzicht auf Reparationen seitens Polens (wie es der Antrag der Koalitionsfraktionen forderte) zu binden, sei nicht zu vertreten. Generell solle die Anerkennung der Grenze nicht an Bedingungen geknüpft werden. Die SPD hielt es für politisch unklug, ohne einen Anlass die Frage der Reparationen auf die Tagesordnung zu setzen. Das könne gerade erst als Einladung für die polnische Seite verstanden werden, Reparationen zu fordern. DIE GRÜNEN erklärten, dass der 1953 von Polen erklärte Verzicht auf Reparationen nur für die DDR galt. Sowohl SPD als auch DIE GRÜNEN kritisierten, dass die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter nicht in den Antrag eingeflossen war und durch den geforderten Verzicht auf Reparationen auch vertraglich abgelehnt werde. Die NS-Zwangsarbeit wurde in der Bundesrepublik rechtlich als Kriegsfolge angesehen und damit ihre Entschädigung als Reparationsfall.

Beide Oppositionsfraktionen kritisierten auch die fehlende Distanzierung Helmut Kohls von den Hardlinern seiner Partei, die für eine revisionistisch gesinnte Minderheit der Heimatvertriebenen sprächen und fortwährend öffentlich mit rechten Positionen provozierten. Die Mehrheit der Vertriebenen habe schon längst verstanden und akzeptiert, dass ihre ehemalige Heimat seit dem Krieg unwiederbringlich verloren sei. Hier fehlten klare Worte des Bundeskanzlers. Durch sein Verhalten riskiere Kohl – so die SPD – den Prozess der deutschen Einheit, da das Vertrauen der Nachbarländer verletzt werde.

Die Kritik der Opposition wurde von der FDP und auch von Bundeskanzler Kohl selbst zurückgewiesen. Kohl verteidigte die Meinung einzelner Vertreter seiner Partei. Auch wenn er ihre Meinung hinsichtlich der polnischen Westgrenze nicht teile, so seien sie doch aufrechte Demokraten. Kohl skizzierte in seiner Rede auch die nächsten Schritte hinsichtlich der polnischen Westgrenze: Nach der demokratischen Volkskammerwahl sollten zunächst die beiden freigewählten Parlamente eine gemeinsame Erklärung hinsichtlich der Unverletzbarkeit der Grenze abgeben, dem sollte eine Erklärung der beiden Regierungen folgen. Nach der Herstellung der deutschen Einheit werde es zu einem Vertragswerk mit Polen kommen.

In der Abstimmung wurde der Antrag der Koalitionsfraktionen angenommen, die beiden anderen Anträge abgelehnt.

Blick auf die Grenzstadt Görlitz an der Neiße. Aufnahme von 1992.

  • „Im Zeichen der Einheit und Freiheit Europas werden auch Polen und Deutsche zueinander finden, wie nach dem Krieg Franzosen und Deutsche zueinander gefunden haben. Was den Ausgleich im Osten schwieriger als den im Westen macht, ist die Tatsache, daß im Osten nicht nur Herrschaftsgrenzen verändert, sondern auch Millionen Menschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben wurden. Hier wurde schweres Unrecht, das vorausgegangen war, mit schwerem Unrecht vergolten. Es traf auf beiden Seiten Millionen Unschuldiger. Polen und Deutsche müssen die Schwierigkeiten, die sich aus dieser geschichtlichen Last ergeben, gemeinsam meistern.“

    Alfred Dregger (CDU/CSU),
    Deutscher Bundestag, 11/173, 8.11.1989, S. 13030.
  • „Nein, Herr Bundeskanzler, die Frage nach der Endgültigkeit der polnischen Westgrenze ist eben keine spätere Frage; es ist eine Frage, die jetzt klipp und klar […] beantwortet werden muß. Es ist eine Frage, die der Herr Bundespräsident und der Außenminister klar beantwortet haben. Nur Sie weichen immer wieder aus. Das nährt Mißtrauen und stört den Einigungsprozeß in gefährlicher Weise. Ich sage Ihnen: Wenn die Grenzfrage nicht über jeden Zweifel hinweg beantwortet ist, dann wird es die deutsche Einigung auch unter den gegenwärtigen Voraussetzungen nicht geben. Sie sind gefordert.“

    Hans-Jochen Vogel (SPD),
    Deutscher Bundestag, 11/197, 15.2.1990, S. 15111 f.
  • „Bis heute vermisse ich auch vom Herrn Bundeskanzler ein eindeutiges klärendes Wort zur Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze. In Europafragen knüpfen Sie eher an die Tradition deutscher Großmannssucht an als an die demokratisch-liberale Tradition, der wir GRÜNEN uns verpflichtet fühlen.“

    Willi Hoss (DIE GRÜNEN),
    Deutscher Bundestag, 11/197, 15.2.1990, S. 15120.
  • „Bleibt die Frage, warum Sie das alles so gemacht haben, warum Sie eigentlich nie den Mut hatten, den Vertriebenen und ihren Nachkommen, deren Gefühle über ihre verlorene Heimat wir verstehen und teilen, […] klipp und klar zu sagen, daß ihre Heimat nicht nach 1945 verlorengegangen ist, sondern daß ihre Heimat schon vor 50 Jahren von Adolf Hitler verspielt worden ist […] und daß es jetzt allein darum geht, Grenzen durchlässiger zu machen, nicht, diese Grenzen zu verändern.“

    Hans-Jochen Vogel (SPD),
    Deutscher Bundestag, 11/200, 8.3.1990, S. 15409.
  • „Ich selbst bin Vertriebener und weiß, daß andere in meinem Herkunftsland Heimat und Auskommen gefunden haben wie ich hier. Ich will keine Wahrnehmung meiner Interessen, die diese anderen bedroht und die Sicherheit ihrer Heimat in Frage stellt. […] Zahllose Vertriebene, ihre ganz große Mehrheit, denken ebenso. ‚Rücksicht auf Vertriebene‘ heißt also Rücksicht auf einige wenige, die es immer noch nicht wahrhaben wollen, daß unsere frühere Heimat schon seit dem Krieg unwiederbringlich verloren ist. Damit wird Rücksicht auf die Sprecher einer ganz kleinen Vertriebenengruppe genommen.“

    Jürgen Schmude (SPD),
    Deutscher Bundestag, 11/200, 8.3.1990, S. 15414.
  • „Der Verständigung mit Polen kommt keine geringere Bedeutung als der Versöhnung mit Frankreich und Israel zu, deren Völker ebenso unter Gewaltherrschaft und unter den Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten gelitten haben wie das polnische Volk.“

    Rita Süssmuth (Bundestagspräsidentin),
    Deutscher Bundestag, 11/217, 21.6.1990, S. 17149.
  • „Heute sind in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße polnische Familien in zweiter und dritter Generation ansässig; diese Gebiete sind ihnen zur Heimat geworden. Wir Deutsche wollen nicht, daß Krieg und Elend, Blut und Tod immer wieder aufgerechnet werden. Wir wollen nach vorne schauen, auf die Zukunft kommender Generationen. Dies wird und kann eine Zukunft in Frieden und Freiheit sein.“

    Helmut Kohl (Bundeskanzler),
    Deutscher Bundestag, 11/217, 21.6.1990, S. 17145.

Parallel zu den Debatten im Bundestag gab es auf Regierungsebene regen Austausch zwischen der DDR und der Bundesrepublik. DDR-Außenminister Markus Meckel positionierte sich bei seiner ersten Auslandsreise, die ihn Ende April 1990 nach Polen führte, bereits klar zum Fortbestand der polnischen Westgrenze. Gemeinsam mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher wurde schließlich vereinbart, dass polnische Vertreterinnen und Vertreter bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen teilnehmen sollten, wenn es um die Grenzfrage ginge. Die Forderungen vonseiten Polens und Frankreichs, vorvertragliche Regelung abzuschließen, konnte sich nicht durchsetzen.

Am 21. Juni 1990 kam es dann zu einer weiteren Debatte im Bundestag und zeitgleich auch zu einer Debatte in der Volkskammer. Abgestimmt wurde über die Beschlussempfehlung des Ausschusses Deutsche Einheit, der weitere Anträge der SPD und der GRÜNEN hinsichtlich der polnischen Westgrenze zugrunde lagen. Die Beschlussempfehlung gab den Wortlaut des künftigen völkerrechtlichen Vertrags zwischen dem vereinten Deutschland und Polen hinsichtlich einer Anerkennung der polnischen Westgrenze wider. Sie enthielt sowohl die explizite Feststellung, dass den Polen durch die Deutschen „schreckliches Leid zugefügt“ worden sei als auch den Heimatvertriebenen „großes Unrecht“ geschehen sei.

In der Abstimmung stimmten 486 Abgeordnete für die Beschlussempfehlung, 15 stimmten dagegen und 3 enthielten sich. Mehrere Abgeordnete gaben persönliche Erklärungen zu Protokoll, die ihre Ablehnung der Beschlussempfehlung begründeten.

Auch im September 1990, als es um die Verabschiedung des Einigungsvertrags ging, wurden im Bundestag kritische Stimmen laut. Der Einigungsvertrag enthielt unter anderem die Streichung des Artikel 23 des Grundgesetzes. Dies bedeutete, dass nach Herstellung der deutschen Einheit keine Gebiete mehr dem Grundgesetz und damit der Bundesrepublik beitreten konnten. Mehrere Abgeordnete der CDU/CSU erklärten daher mit Blick auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, dass sie dem Vertrag nicht zustimmen könnten. Die Regelungen mit der DDR könnten keinen Vertrag mit Polen vorwegnehmen.

Wolfgang Schäuble (1989-1990 Bundesminister des Innern) schildert den Ablauf der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Zuge der deutschen Einheit. Er geht auch auf Gegner der Anerkennung in den Reihen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022

Am 12. September 1990 wurde in Moskau der Zwei-Plus-Vier-Vertrag unterzeichnet. Er legte unter anderem die Grenzen des geeinten Deutschlands fest und enthielt die Feststellung, dass das vereinte Deutschland keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten habe und solche auch nicht in Zukunft erheben werde. Nach Herstellung der deutschen Einheit wurde die Oder-Neiße-Grenze am 14. November 1990 verbindlich im deutsch-polnischen Grenzvertrag festgelegt. Am 17. Juni 1991 folgte der „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“, der die Grundsätze der deutsch-polnischen Aussöhnung beinhaltete.

  • Bundeskanzler Helmut Kohl und Jan Krzysztof Bielecki, Ministerpräsident Polens, bei der Unterzeichnung des „Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ am 17.6.1991 im Bundeskanzleramt. Quelle: Bundesregierung,  B 145 Bild-00204789 / Schambeck, Arne

  • Bundeskanzler Helmut Kohl und Jan Krzysztof Bielecki, Ministerpräsident Polens, nach der Unterzeichnung des „Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ am 17.6.1991 im Bundeskanzleramt. Quelle: Bundesregierung, B 145 Bild-00204788 / Schambeck, Arne
  • „Gewiß, so meinen wir alle, in diesem Europa soll es nicht mehr um Grenzen, nicht mehr um Abgrenzung, sondern um offenen und unbehinderten Umgang miteinander, und zwar auf der Grundlage der wechselseitigen Anerkennung der Menschenrechte, der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und Bewahrung der Umwelt, gehen. Die Menschen können nur offen füreinander werden, wenn Vertrauen an die Stelle von Mißtrauen tritt. Das Trennende der äußeren Grenzen kann nur aufgehoben werden, wenn das Trennende zwischen den Menschen zum Verbindenden wird, wenn Sicherheit Unsicherheit ablöst.“

    Rita Süssmuth (Bundestagspräsidentin),
    Deutscher Bundestag, 11/217, 21.6.1990, S. 17150.
  • „[…] von den Ostverträgen Willy Brandts, insbesondere dem Warschauer Vertrag, führt ein erkennbarer, oft dorniger Weg zu der heutigen Situation. Heute werden die Grenzen in Europa allseits anerkannt, gleichzeitig aber öffnen sie sich und verlieren ihre trennende Wirkung […].“

    Horst Ehmke (SPD),
    Deutscher Bundestag, 11/217, 21.6.1990, S. 17151.
  • „Wir wissen, daß nichts von der Bundesrepublik Deutschland und jeder ihrer Regierungen aufgegeben wurde oder aufgegeben wird, was nicht längst vorher schon verloren war, […] verloren durch einen verbrecherischen Krieg und ein verbrecherisches System. Wir sind und auch bewußt – das schließt alle diejenigen ein, die ihre Heimat verloren haben –, daß dem polnischen Volk von deutschen und im deutschen Namen großes Unrecht geschehen ist.“

    Hans-Dietrich Genscher (Bundesminister des Auswärtigen),
    Deutscher Bundestag, 11/217, 21.6.1990, S. 17158.
  • „Wer jetzt alle Grenzen bedingungslos anerkennt und gleichzeitig hofft, […] daß die Grenzen im europäischen Sinne überflüssig werden, wird von Polen keinerlei Zugeständnisse erhalten; dafür aber möglicherweise Forderungen über Hunderte von Milliarden DM.“

    Gerhard Dewitz (CDU/CSU),
    Deutscher Bundestag, 11/217, 21.6.1990, S. 17270.
  • „[…] eine als Grenze anerkannte Oder-Neiße-Linie wird in die Form des Rechts gegossenes Unrecht sein. Sie wird zudem, wenn unser ganzer Erdteil endgültig entstalinisiert sein wird, die letzte Institution Stalins in Europa sein.“

    Lorenz Niegel (CDU/CSU),
    Deutscher Bundestag, 11/217, 21.6.1990, S. 117271.
  • „Ich bin Heimatvertriebener. Aber ich bin nicht heimatlos. Ich habe eine neue Heimat und will in meiner alten Heimat keinen neuen Heimatlosen schaffen. Ich stimmte dem Grenzverlauf mit Polen zu, nicht leichten Herzens, aber in der festen Überzeugung, das einzig Richtige zu tun. Man kann sich viele Lösungen vorstellen, aber es gibt nur einen gangbaren Weg, nicht zurück, sondern nach vorn, in die Zukunft. Wir müssen den verhängnisvollen Kreislauf von Haß, Rache und Vergeltung durchbrechen und die aktive Versöhnung mit Polen suchen. Man kann auch verzichten, um etwas zu gewinnen. Und die deutsche Einheit in den Grenzen von 1989 ist ein Gewinn!“

    Olaf Feldman (FDP),
    Deutscher Bundestag, 11/217, 21.6.1990, S. 17288.
  • „Für Millionen Deutsche, die ihre Heimat unter schmerzlichen Bedingungen aufgeben mußten, bedeutet diese Entscheidung einen besonderen und persönlichen Beitrag zum Frieden in Europa.“

    Hans-Dietrich Genscher (Bundesminister des Auswärtigen),
    Deutscher Bundestag, 11/226, 20.9.1990, S. 17805.
  • „Wer glaubt, heute noch von den Grenzen von 1937 faseln zu können und an diese Grenzen anknüpfen zu können, der hat nicht verstanden, daß zwischen 1937 und heute […] Taten und Ereignisse liegen, die jedes auch nur gedankliche Anknüpfen an diese Zeit und ihre Grenzen verbietet. Ich bin froh, daß mit den Verträgen, die jetzt vorliegen, sichergestellt ist, daß die polnische Westgrenze von niemandem mehr in Frage gestellt werden kann und daß Grenzen in Europa künftig nur noch auf friedlicherem Wege verändert werden können.  Ich hoffe auch, daß die Grenzen ihre Bedeutung immer mehr verlieren werden.“

    Gerald Häfner (DIE GRÜNEN),
    Deutscher Bundestag, 11/226, 20.9.1990, S. 17825.
Bundespräsident Weizsäcker mit einem Grenzbeamten und Sachsens Ministerpräsident Biedenkopf vor dem Grenzübergang zu Polen
Bundespräsident Richard von Weizsäcker am deutsch-polnischen Grenzübergang auf der Neiße-Brücke bei einem Gespräch mit einem Grenzbeamten in Begleitung von Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Aufnahme vom 20.2.1992.

Dokumente

Die Präambel des Einigungsvertrags

Die Präambel des Einigungsvertrags

Die Relevanz, die die Erinnerung an die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus und seine vielen Opfer im Kontext der deutschen Einheit hatte, verdeutlicht auch ein Disput hinsichtlich der Formulierung der Präambel des Einigungsvertrags.

In der Präambel des Einigungsvertrags heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik – entschlossen, die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit als gleichberechtigtes Glied der Völkergemeinschaft in freier Selbstbestimmung zu vollenden, […] im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte und eingedenk der sich aus unserer Vergangenheit ergebenden besonderen Verantwortung für eine demokratische Entwicklung in Deutschland, die der Achtung der Menschenrechte und dem Frieden verpflichtet bleibt, […] – sind übereingekommen, einen Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands mit den nachfolgenden Bestimmungen zu schließen: […].“

Dieser Passus stieß im Sommer 1990 auf öffentliche Kritik. So erklärte Heinz Galinski, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, dass die Formulierung nicht den „Kern der Sache“ träfe. Er unterbreitete einen alternativen Formulierungsvorschlag: „[…] im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte und besonders eingedenk der zwischen 1933 bis 1945 in ihrer Einmaligkeit begangenen Gewalttaten mit der sich daraus ergebenden Verpflichtung gegenüber allen Opfern und Verantwortung für eine demokratische Entwicklung in Deutschland, die der Achtung der Menschenrechte und dem Frieden verpflichtet bleibt […]“

Galinskis Formulierung wurde letztendlich nicht in den Einigungsvertrag übernommen, da Vertreterinnen und Vertreter der Koalitionsfraktionen der Ansicht waren, dass die ursprüngliche Formulierung eindeutig auf das im Nationalsozialismus begangene Unrecht hinweise. Die SPD hätte sich einen direkteren Bezug zum Nationalsozialismus in der Präambel gewünscht und die GRÜNEN plädierten für die Formulierung des Zentralrats der Juden. Aber auch in den Reihen der FDP gab es mit Hildegard Hamm-Brücher eine Vertreterin, die sich eine konkretere Formulierung gewünscht hätte.

Diese Stimmen konnten sich in den bestehenden Mehrheitsverhältnissen im Parlament jedoch nicht durchsetzen.

  • „Wir wissen aus leidvoller Erfahrung […], daß dieses Erinnern für uns immer wieder eine mühsame Aufgabe war und daß es das auch in Zukunft bleiben wird, ob es sich um die unerledigten Kapitel der Nazi- oder nun auch der Stasi-Vergangenheit handelt. So gelesen […] halte ich die Präambel zum Einigungsvertrag und die entsprechenden Passagen in der dazugehörigen Denkschrift leider für völlig ungenügend. Hier hätte – statt im verschwommenen Beamtendeutsch zu formulieren – mit einem klaren moralischen Bekenntnis zu unserer geschichtlichen Erblast ein guter neuer Anfang gemacht werden können. […] Das ist leider versäumt worden, und ich bedaure das.“

    Hildegard Hamm-Brücher (FDP),
    Deutscher Bundestag, 11/226, 20.9.1990, S. 17866.
  • „Es ist wirklich eines der armseligsten und peinlichsten Kapitel in der Entstehung dieses Einheitsvertrages, daß die Bundesregierung bei der Änderung der Präambel nicht bereit war, eine Formulierung aufzunehmen, die dieser Verpflichtung entspricht. Sie mußte erst vom Zentralrat der Juden daran erinnert werden. Auch dann noch hat die sich bockig gestellt und ist es bis heute geblieben. Das ist ein schlechter Auftakt für den gemeinsamen Staat und ein gefährliches Signal für alle, die die neue Größe und Souveränität Deutschlands mit verständlicher Angst betrachten.“

    Gerald Häfner (DIE GRÜNEN),
    Deutscher Bundestag, 11/226, 20.9.1990, S. 17825.
Gedenktage und das „Ende der Nachkriegszeit“

Gedenktage und das „Ende der Nachkriegszeit“

Bereits wenige Monate nach der Niederschlagung des Volksaufstands in der DDR, am 17. Juni 1953, wurde dieser Tag vom Bundestag zum „Symbol der deutschen Einheit in Freiheit“ und zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Mit der Erinnerung an den Volksaufstand war immer die Hoffnung auf eine Überwindung der deutschen Teilung verbunden.

Der Feiertag war jedoch Ende der 1980er-Jahre nicht unumstritten. Im Bundestag wurde Anfang 1989 vonseiten der GRÜNEN angeregt, statt des 17. Juni – der so die GRÜNEN nie identitätsstiftend gewesen sei – lieber den 1. September (in Erinnerung an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs) als Gedenktag zu begehen. Laut Antje Vollmer (DIE GRÜNEN) passe der 17. Juni nicht in die aktuellen Entwicklungen in Europa, stattdessen könne man den 1. September nutzen, um über die „Ursachen von Kriegen, über die Notwendigkeit ihrer Vermeidung und über unseren Beitrag zur Vermeidung neuer Konflikte, auch ökonomischer Konflikte“ nachzudenken. Die drei anderen Bundestagsfraktionen gingen nicht näher auf diesen Vorschlag ein.

Nach dem Fall der Mauer kam es am 17. Juni 1990 zu einem symbolträchtigen Ereignis. Erstmals konnten Ost- und Westdeutsche den Gedenktag gemeinsam begehen. Die Abgeordneten der freigewählten Volkskammer und die Abgeordneten des Bundestags kamen auf Einladung der Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl im Konzerthaus am Ost-Berliner Gendarmenmarkt zusammen.

Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth erklärte in ihrer Rede, dass die Ereignisse rund um den Mauerfall zeigten, dass die Opfer des niedergeschlagenen Aufstands von 1953 nicht umsonst gewesen seien. Der Widerstand habe sich fortgesetzt und sei schließlich im Sturz der SED-Diktatur gemündet.

Ein von den GRÜNEN eingebrachter Vorschlag, am 17. Juni 1990 den Bestand der polnischen Westgrenze gemeinsam zu garantieren, scheiterte im Vorfeld.

Als sich der 3. Oktober als Tag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten abzeichnete, wurden bald Stimmen laut, nun den 3. Oktober als „Tag der deutschen Einheit“ zu feiern. Im Gegensatz zum Gedenktag am 17. Juni symbolisiere der 3. Oktober einen Tag der Freude über die Überwindung der deutschen Teilung.

In den Reihen der Fraktion DIE GRÜNEN gab es jedoch Kritik an diesem Vorhaben. So erklärte Gerald Häfner, dass man statt dem 3. Oktober (der von Bürokraten als Tag der Vereinigung angesetzt worden sei) lieber den 9. Oktober als Feiertag begehen solle. Denn das sei der Tag gewesen, an dem sich die Friedliche Revolution in der DDR durchgesetzt habe. Mit dieser Meinung konnte sich Häfner jedoch nicht durchsetzen.

Für viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wurden die Ereignisse zwischen Mauerfall und deutscher Einheit als historische Zäsur wahrgenommen. Das Wort vom „Ende der Nachkriegszeit“ war weitverbreitet. Auch dies spiegelte sich für viele politische Akteurinnen und Akteure symbolisch im Datum des 3. Oktober 1990 wider.

  • „Er [der 17. Juni] war meines Erachtens nie identitätsstiftend. Er hat das Reden und das Nachdenken auf den falschen Punkt gelenkt, aus dem sich auch eine nationale Identität für die Deutschen für heute und für die Zukunft nicht mehr gewinnen läßt. Er paßt nicht mehr in die neuen Entwicklungen, die im europäischen Haus stattfinden. Stattdessen erscheint es uns wirklich sinnvoll, am 1. September, dem traditionellen Antikriegstag, intensiv über die Ursachen von Kriegen, über die Notwendigkeit ihrer Vermeidung und über unseren Beitrag zur Vermeidung neuer Konflikte, auch ökonomischer Konflikte, die von diesem Land ausgehen könnten, nachzudenken.“

    Antje Vollmer (DIE GRÜNEN),
    Deutscher Bundestag, 11/119, 19.1.1989, S. 8804.
  • „Wir wollen in dieser Zeit und an diesem Tag aber auch schmerzhafte Daten nicht vergessen, Daten der schmerzhaften Erinnerung und Mahnung: Der 17. Juni 1953 und der 13. August 1961 bleiben wichtig. Aber sie werden künftig einer geschichtlichen Periode der Nachkriegszeit zuzurechnen sein, die wir nun endlich überwinden können.“

    Theo Waigel (Bundesminister der Finanzen),
    Deutscher Bundestag, 11/212, 23.5.1990, S. 16666.
Bundesfahnen vor dem Reichstag

Tag der deutschen Einheit in Berlin. Feier vor dem Reichstagsgebäude.

 

Wolfgang Mischnick (FDP) spricht am 20.9.1990 über den 3. Oktober als „Tag der deutschen Einheit“.
Quelle: Deutscher Bundestag

 

Hildegard Hamm-Brücher (FDP) spricht am 20.9.1990 über das „Ende der Nachkriegszeit“.
Quelle: Deutscher Bundestag

  • Gerald Häfner (1987-1990 Bundestagsabgeordneter der Fraktion DIE GRÜNEN) erklärt, warum er nicht der Auffassung ist, dass der 3. Oktober ein gutes Datum für das Feiern der deutschen Einheit ist.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022

  • Herta Däubler-Gmelin (zur Zeit der deutschen Einheit stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion) spricht über die Wahrnehmung vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, dass durch die deutsche Einheit das „Ende der Nachkriegszeit“ erreicht worden sei.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022

  • „Während der 17. Juni für uns in der Bundesrepublik Deutschland weit über 30 Jahre lang ein Tag des Gedenkens war und bleibt – er wird nicht in Vergessenheit geraten –, so soll der 3. Oktober für uns alle, für alle unsere Mitbürger im vereinten Deutschland, zu einem Tag der Freude werden. Kein Mensch im Ausland würde es verstehen, wenn wir dieses wahrlich historische Datum künftig nicht festlich und fröhlich feiern würden.“

    Wolfgang Mischnick (FDP),
    Deutscher Bundestag, 11/226, 20.9.1990, S. 17829.
  • „Ich finde gut, daß es in Deutschland über alle politischen Lager und Gruppen hinweg eine spontane Zustimmung gegeben hat, den 3. Oktober 1990 zum Tag der Deutschen Einheit und zum gesetzlichen Feiertag zu machen, und daß wir auch das im Vertrag regeln.“

    Wolfgang Schäuble (Bundesminister des Innern),
    Deutscher Bundestag, 11/222, 5.9.1990, S. 17491.
  • „[…] machen Sie den 3. Oktober nicht zum nationalen Feiertag. Dieses im Parteiengezänk, Hickhack um vermeintlich bessere Wahlaussichten und in nächtlichen Sondersitzungen zustande gekommene Datum ist wirklich der ungeeignetste Termin zum Feiern. Wenn Sie schon feiern wollen, dann feiern Sie lieber den 9. Oktober, also den Tag, an dem die Menschen schon wußten, daß Panzer, bewaffnete Einheiten und Internierungslager bereitstanden, und an dem trotzdem jeder für sich den Mut hatte […] dem verhaßten Regime zu trotzen, auch wenn er nicht wissen konnte, wie es ausgehen würde. […] Das ist ein Grund zu feiern. […]. Feiern Sie nicht sich, Herr Kohl […], sondern feiern Sie die Menschen, die diese Revolution und damit den Abbruch der Mauer und die Vereinigung beider deutscher Staaten erst ermöglicht haben.“

    Gerald Häfner (DIE GRÜNEN),
    Deutscher Bundestag, 11/226, 20.9.1990, S. 17823.
  • „Der 3. Oktober ist der glücklichste Tag für die Deutschen in diesem Jahrhundert. Ich kenne kein anderes Datum, ich kenne kein anderes Jahr, […] zu dem die Deutschen glücklicher gewesen wären als jetzt im Jahr 1990.“

    Norbert Blüm (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung),
    Deutscher Bundestag, 11/226, 20.9.1990, S. 17861.

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