ERINNERUNG
Bundestag 1990 – 1992
Der erste gesamtdeutsche Bundestag beschäftigte sich nach Herstellung der deutschen Einheit unter anderem mit der besonderen historischen Verantwortung der Deutschen hinsichtlich der Einwanderung sowjetischer Jüdinnen und Juden in die Bundesrepublik. Ein weiteres Thema mit großer symbolischer Bedeutung war die Frage des Sitzes der Bundesregierung und des Bundestags im vereinten Deutschland.
Die Einwanderung sowjetischer Jüdinnen und Juden
Nicht nur Deutschland, sondern auch viele Staaten in Ostmittel- und in Osteuropa durchliefen Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre große Umbrüche. Auch die Sowjetunion war hier keine Ausnahme. In diesen unsicheren Jahren der Reformen des sowjetischen Imperiums kam es gehäuft zu antisemitischen Ausschreitungen, wodurch viele Jüdinnen und Juden die Notwendigkeit sahen, auszuwandern. Die in der DDR geführte Debatte um die Aufnahme jüdischer Auswanderinnen und Auswanderer wurde im Bundestag fortgesetzt.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN initiierten am 25. Oktober 1990 eine Aktuelle Stunde und erklärten, dass die Deutschen aufgrund der Shoah eine moralische Verpflichtung hätten, den sich in Not befindenden sowjetischen Jüdinnen und Juden beizustehen. Allen, die den Wunsch äußerten, in die Bundesrepublik einzuwandern, sollte dies auch erlaubt werden. An der Haltung der Bundesrepublik in dieser Frage werde sich zeigen, ob die von einigen Ländern im Vorfeld der deutschen Einheit geäußerten Ängste vor einem vereinigten Deutschland berechtigt gewesen seien oder nicht. Seit September 1990 habe es durch die Bundesregierung einen „faktischen Einreisestopp“ gegeben, diese Politik müsse durch den Bundestag korrigiert werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN äußerten den Wunsch, dass der Bundestag als letzte Entschließung vor der ersten gesamtdeutschen Wahl am 2. Dezember 1990 eine Einladung an die sowjetischen Jüdinnen und Juden aussprechen sollte.
CDU/CSU, FDP, SPD und PDS beteuerten ebenfalls, dass die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Verpflichtung hätten, in der aktuellen Situation zu helfen.
CDU/CSU, FDP und SPD erklärten jedoch auch, dass es kein ungeregeltes Verfahren nach dem Motto „Jeder, der kommen will, kann zu uns kommen“ geben dürfe. Man müsse auch die Aufnahmekapazitäten der Gemeinden im Blick behalten, denn es dürfe nicht zu der Situation kommen, dass durch Überlastungen nur noch unzureichende Unterkünfte für die Einwanderinnen und Einwanderer bereitstünden.
Laut CDU/CSU gebe es bereits wirksame gesetzliche Möglichkeiten zur Einwanderung, so etwa das Kontingentflüchtlingsgesetz. Es müsse jedoch zu engen Absprachen sowohl mit den Bundesländern als auch mit jüdischen Organisationen und selbstverständlich auch mit Israel kommen. Durch die Einwanderung könne, so die Ansicht von CDU/CSU, FDP und Bundesregierung, eine erstrebenswerte Wiederbelebung der jüdischen Gemeinden in Deutschland erreicht werden. Die Bundesregierung erklärte zudem, dass es bereits zu Absprachen mit den Bundesländern und jüdischen Organisationen gekommen sei und alle Seiten bemüht seien, eine geordnete Verfahrensweise zu finden. Bisher sei noch niemand abgewiesen worden. Zwar sei die Bundesrepublik kein Einwanderungsland, doch beim Zuzug von Jüdinnen und Juden aus Osteuropa habe man eine besondere Verantwortung.
Auch am 31. Oktober kam es aus Anlass eines Antrags von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer kurzen Debatte hinsichtlich der Einwanderung der Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion. Aufgrund der kurzen Zeitspanne zwischen Aktueller Stunde und der Beratung des Antrags wurden kaum neue Argumente diskutiert. Bald darauf wurde mit den Bundesländern ein Verfahren über das Kontingentflüchtlingsgesetz erarbeitet. Zwischen 1991 und 2005 konnten so etwa 230.000 Personen nach Deutschland einwandern. Am 1. Januar 2006 endete das Programm.
Dokument
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Antrag von DIE GRÜNEN/Bündnis 90: Einwanderung sowjetischer Juden in die Bundesrepublik Deutschland, DS 11/8212, 24.10.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
Bonn oder Berlin?
Der Einigungsvertrag bestimmte Berlin zur Hauptstadt des vereinigten Deutschlands. Über den Sitz von Parlament und Regierung nach Herstellung der deutschen Einheit musste jedoch noch im gesamtdeutschen Parlament entschieden werden. Die Frage stieß auch in der Bevölkerung auf breites Interesse. Eine Initiative der SPD, im Rahmen eines Volksentscheids die Bürgerinnen und Bürger des Landes in die Entscheidung mit einzubeziehen, scheiterte jedoch im Juni 1991 an der ablehnenden Haltung der beiden Koalitionsfraktionen.
Als es schließlich am 20. Juni 1991 zur Abstimmung des Bundestags über den Sitz der Regierung und des Parlaments kam, lagen fünf Anträge vor. 84 Abgeordnete der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD sprachen sich im sogenannten „Bonn-Antrag“ dafür aus, dass der Sitz von Parlament und Regierung in Bonn bleiben solle. 173 Abgeordnete der CDU/CSU, FDP, SPD und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN plädierten im sogenannten „Berlin-Antrag“ für Berlin als Sitz des Deutschen Bundestags und der Kernbereiche der Regierung. Bonn sollte Verwaltungszentrum bleiben, dort sollten Teilbereiche mit primär verwaltendem Charakter der Ministerien angesiedelt sein, sodass die meisten Arbeitsplätze in Bonn erhalten bleiben könnten. Der Bundespräsident sollte seinen ersten Sitz in Berlin haben, der Bundesrat jedoch sollte in Bonn bleiben.
Mehrere Abgeordnete der SPD forderten in einem Antrag, dass der Sitz des Bundestags und der Sitz der Bundesregierung nicht örtlich getrennt werden dürften. Genau das sah jedoch ein Antrag von mehreren CDU/CSU-Abgeordneten vor. Nach ihrer Vorstellung sollte der Sitz des Bundestags und der Amtssitz des Bundespräsidenten in Berlin, die Bundesregierung und die Ministerien sowie der Bundesrat aber in Bonn ansässig sein bzw. bleiben. Einzig die PDS/Linke Liste stellte als Gruppe geschlossen einen Antrag, der den Sitz von Parlament und Bundesregierung in Berlin forderte.
Bei der Abstimmung setzte sich sehr knapp der sogenannte „Berlin-Antrag“ mit 337 Ja-Stimmen gegen den „Bonn-Antrag“ mit 320 Ja-Stimmen durch. Die weiteren Anträge wurden abgelehnt. Die PDS/Linke Liste zog ihren Antrag zurück.
Spontane Feier als bekannt wurde, dass der Bundestag die Verlegung von Parlament und Regierungssitz nach Berlin beschlossen hat.
Auffallend an der Debatte war, dass sich im Abstimmungsverhalten kein Muster hinsichtlich der Fraktionszugehörigkeit ausmachen ließ. Lediglich die beiden Bundestagsgruppen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste) plädierten klar mehrheitlich für den Berlin-Antrag, aber selbst hier gab es einzelne Abgeordnete, die sich für Bonn als Parlaments- und Regierungssitz aussprachen. Die meisten ostdeutschen Abgeordneten stimmten für Berlin, doch auch unter ihnen gab es andere Meinungen.
Die Berlinbefürworterinnen und -befürworter bedienten sich in der ganztägigen Debatte neben vielen anderen vor allem den folgenden Argumenten: Historisch gesehen sei Berlin immer die deutsche Hauptstadt gewesen und das sei auch durch den Parlaments- und Regierungssitz zu unterstreichen. Durch den Fall des „Eisernen Vorhangs“ rücke Berlin zudem ins Zentrum Europas und könne eine Brückenfunktion zwischen Ost und West einnehmen. Das eröffne neue außenpolitische Perspektiven. Durch die deutsche Einheit sei etwas Neues entstanden und dies müsse sich auch symbolisch durch den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin manifestieren.
Die Bonnbefürworterinnen und -befürworter hingegen begründeten ihren Standpunkt hauptsächlich wie folgt: Sie befürchteten durch den Umzug von Parlament und Regierung eine zu starke Zentralisierung der Bundesrepublik. Außerdem kritisierten sie die hohen Kosten des Umzugs; das Geld sei sinnvoller in den Aufbau der neuen Bundesländer zu investieren. Gegen einen Umzug nach Berlin sprächen zudem die negativen wirtschaftlichen Folgen für die Großregion Bonn. Bonn als Sitz des Parlaments und der Regierung spräche für Kontinuität und Stabilität. Einige Abgeordnete votierten für Bonn, da sie die Meinung vertraten, dass Berlin aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht wieder Parlaments- und Regierungssitz werden sollte.
Nachdem sich der Bundestag für Berlin ausgesprochen hatte, stimmte auch der Bundesrat am 5. Juli 1991 zu, Berlin zum Sitz von Parlament und Regierung zu machen. Der im „Berlin-Antrag“ vorgesehene Verbleib des Bundesrats in Bonn wurde jedoch später wieder revidiert. Sitz des Bundesrats ist heute Berlin.
Der Umzug der Regierung und des Parlaments nach Berlin wurde im Jahr 1999 vollzogen. Doch auch heute sind noch einige Bundeseinrichtungen und fünf Bundesministerien mit ihrem Hauptsitz in Bonn vertreten, das gilt etwa für das Bundesministerium der Verteidigung. Die genaue Aufteilung wurde 1994 im Berlin-Bonn-Gesetz erarbeitet.
Dokumente
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Gesetzentwurf der SPD: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 146), DS 12/656, 4.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag
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Gesetzentwurf der SPD: Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren zur Durchführung des Volksentscheids nach Artikel 146 Abs. 2 des GG, DS 12/657, 4.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag
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Antrag mehrerer Abgeordneter verschiedener Fraktionen: Bonn-Antrag, DS 12/814, 19.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag
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Antrag mehrerer Abgeordneter verschiedener Fraktionen: Berlin-Antrag, DS 12/815, 19.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag
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Antrag mehrerer Abgeordneter: Zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie, DS 12/816, 19.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag
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Antrag von Abgeordneten der CDU/CSU: Konsensantrag Berlin/Bonn, DS 12/817, 19.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag
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Antrag der PDS/Linken Liste: Bestimmung der Hauptstadt Berlin zum Sitz von Parlament und Bundesregierung, DS 12/818, 19.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag
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