OPFER
Bundestag 1989 – 1990
Der Bundestag war Ende der 1980er-Jahre noch immer mit Fragen der Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer des Nationalsozialismus beschäftigt. Durch den Fall der Berliner Mauer 1989 ergaben sich schließlich neue Perspektiven für die Entschädigung von NS-Opfern jenseits des „Eisernen Vorhangs“ und es zeichnete sich ab, dass durch das Ende der SED-Diktatur auch deren Opfer Anrecht auf Entschädigung und Rehabilitierung haben würden.
Die Entschädigung der NS-Opfer bis Ende der 1980er-Jahre
Obwohl die Entschädigung der vielen Opfer des Nationalsozialismus Ende der 1980er-Jahre bereits auf eine jahrzehntelange Geschichte, zahlreiche gesetzliche Regelungen sowie Abkommen mit zwölf westeuropäischen Staaten und Israel zurückblicken konnte, traten in diesen Jahren immer häufiger die nicht wenigen blinden Flecken der Entschädigung in den Vordergrund.
Meilensteine auf dem Weg der Entschädigung der NS-Opfer waren einerseits das mehrfach überarbeitete Bundesentschädigungsgesetz (BEG), das bereits 1953 in Kraft trat, und das Allgemeine Kriegsfolgengesetz (AKG) von 1957. Die beiden Gesetze widmeten sich jeweils unterschiedlichen Personengruppen.
Das BEG enthielt Regelungen zur Entschädigung (neben Rentenzahlungen auch weitere Beihilfen u.a. auch für Hinterbliebene) von als „Verfolgte“ des Nationalsozialismus definierten Personen: „Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter).“ NS-Opfer aus den kommunistischen Staaten Ostmittel- und Osteuropas waren grundsätzlich von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen.
Das AKG hingegen regelte die Entschädigung für Personen, die nicht die Verfolgteneigenschaften des BEG erfüllten, jedoch durch das NS-Regime Schaden an Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit erlitten hatten. Ansprüche auf Entschädigung konnten ausschließlich Personen stellen, die strenge Regelungen hinsichtlich ihres ständigen Aufenthaltsorts erfüllten. So mussten die Personen entweder bis zum 31. Dezember 1953 ihren Wohnsitz im Geltungsbereich des AKG oder in einem Staat haben, der die Bundesrepublik Deutschland am 1. April 1956 anerkannt hatte.
Beiden Gesetzen gemein waren sehr engbemessene Antragsfristen, die in den 1980er-Jahren bereits seit Jahrzehnten ausgelaufen waren.
Die „vergessenen Opfer“ des Nationalsozialismus
In den 1980er-Jahren rückten zahlreiche Opfergruppen ins öffentliche Bewusstsein, die im bisherigen gesellschaftlichen Diskurs eine marginalisierte Rolle gespielt hatten. Hintergrund waren einerseits neue geschichtswissenschaftliche Forschungsergebnisse und andererseits Proteste von Opferverbänden. Welche Personengruppen waren gemeint? In seiner vielbeachteten Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 ging Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf einen Teil der sogenannten „vergessenen Opfer“ des Nationalsozialismus ein. Er nannte etwa Sinti und Roma, Homosexuelle, Opfer der sogenannten „Euthanasie“, Kommunistinnen und Kommunisten, Zwangssterilisierte, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Im Jahr 1987 ergab zudem eine Sachverständigenanhörung im Innenausschuss, dass es eine beträchtliche Anzahl an Betroffenen gebe, die noch keine oder noch keine hinreichende Entschädigung für das erlittene Leid während des Nationalsozialismus erhalten hatte. Das in der Nachkriegszeit entstandene BEG könne jedoch nicht novelliert werden.
Die Mitglieder des Innenausschusses forderten fraktionsübergreifend, dass dieser Zustand geändert werden müsse. Am 3. Dezember 1987 forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, zusätzliche Maßnahmen für die Entschädigung zu treffen und stellte eine Summe von 300 Mio. DM zur Verfügung. Bereits zu diesem Zeitpunkt herrschte jedoch Uneinigkeit zwischen den Koalitionsfraktionen und den Oppositionsfraktionen des Deutschen Bundestags, wie eine neue Regelung aussehen könnte: Während sich die Koalitionsfraktionen für sogenannte „Härterichtlinien“, die das AKG ergänzen sollten, einsetzten, forderten die Oppositionsfraktionen eine Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“.
Neben den von Weizsäcker benannten Opfergruppen wurden in einem Antrag der SPD-Fraktion aus dem Dezember 1987 auch noch weitere Gruppen genannt: Opfer von medizinischen Versuchen, Opfer von Zwangsabtreibungen und weitere Geschädigte des sogenannten „Erbgesundheitsgesetzes“ von 1933; Verfolgte nach der Definition des BEG, die Antragsfristen nicht wahrnehmen konnten, weil sie die Wohnsitz- oder Stichtagsvoraussetzungen nicht erfüllt hatten; Personen, die Gesundheitsschäden nicht geltend machen konnten, weil die Schäden erst als Spätfolgen nach Antragsfrist aufgetreten waren; Wehrdienstverweigerer, sogenannte „Wehrkraftzersetzer“, Sozialverfolgte und Mitglieder des Jugendwiderstands.
Der Aufforderung des Bundestags kam die Bundesregierung am 7. März 1988 mit den „Richtlinien über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG)“ nach.
Zur Überprüfung der Wirksamkeit der Richtlinien sollte innerhalb des Innenausschusses der Unterausschuss „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ gegründet werden. Die neuen Richtlinien wurden von den Bundestagsfraktionen der SPD und der GRÜNEN kritisch gesehen, da wiederum nicht alle Gruppen der „vergessenen Opfer“ Berücksichtigung fanden. Vertreterinnen und Vertreter der Opposition plädierten für die Einsetzung eines Beirats mit Betroffenen, der jedoch von der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt wurde. Dies ist einer Beschlussempfehlung des Innenausschusses aus dem April 1988 zu entnehmen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985. Weizsäcker bezeichnete den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ und nannte in seiner Rede zahlreiche Opfergruppen des Nationalsozialismus, die bis zu diesem Zeitpunkt kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert waren.
Antje Vollmer (1989-1990 Fraktionssprecherin der GRÜNEN im Bundestag) spricht über ihre Initiativen zur Entschädigung von Opfern der NS-Diktatur, ihre persönliche Motivation, sich diesem Thema zu widmen, und die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1985.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung
Bis es zur Abstimmung über diese Beschlussempfehlung kam, verging über ein Jahr. Am 21. Juni 1989 stand das Thema auf der Tagesordnung des Bundestags und es wurde insbesondere über drei Kernprobleme debattiert:
- Von den 300 Mio. DM, die zur Umsetzung der weiteren Entschädigungsleistungen vom Bundestag zur Verfügung gestellt worden waren, waren in dem einen Jahr seit Eintreten der Richtlinien, also 1988, lediglich 1,6 Mio. DM ausgezahlt worden. Für das Haushaltsjahr 1988 war jedoch die Auszahlung von 47,2 Mio. DM vorgesehen gewesen.
- Die Richtlinien schlossen weiterhin bestimmte Personengruppen aus.
- Es gab einen Härtefonds beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, den die Bundesrepublik zur Verfügung stellte, um sogenannte „Nationalgeschädigte“ (Personen, die aufgrund ihrer Nationalität während der NS-Zeit verfolgt worden waren) entschädigen zu können. Im Jahr 1989 war der Fonds erschöpft, der Hohe Flüchtlingskommissar konnte keine weiteren Anträge bewilligen.
In der Debatte am 21. Juni 1989 wurde von allen Fraktionen Unverständnis und Empörung über die zaghafte Auszahlungspraxis nach den Härterichtlinien laut.
Die Koalitionsfraktionen hatten einen Tag zuvor ihren Standpunkt in einem Änderungsantrag zur Beschlussempfehlung aus dem Jahr 1988 zusammengefasst: Ihrer Ansicht nach müssten die Härterichtlinien verbessert und die Verfahren flexibler und schneller gehandhabt werden. Eine „Verbesserung der Mittelvergabe“ sei notwendig, der auszufüllende Fragebogen sei zu verbessern, um die Hemmschwelle zur Antragsstellung herabzusetzen: „Dabei sind Fragen, die die Antragssteller über Gebühr psychisch belasten, zu vermeiden.“ Hinsichtlich der Gruppe der Zwangssterilisierten seien die Richtlinien zu konkretisieren. Des Weiteren widmete sich der Antrag einem Thema, das zuvor bereits von den GRÜNEN angeregt worden war und deren Antrag an der notwendigen Mehrheit in den Ausschüssen gescheitert war: Entschädigungsleistungen sollten bei der Bemessung von Sozialhilfeleistungen nicht als Einkommen angerechnet werden.
Wolfgang Lüder (FDP) forderte in der Debatte zusätzlich, dass sich die Bundesregierung mit dem Hohen Flüchtlingskommissar hinsichtlich der Härtefonds für Nationalgeschädigte absprechen sollte. Neben den sogenannten „vergessenen Opfern“ gebe es auch noch jüdische Opfer, die vergleichbare Ansprüche hätten. Er rief die Bundesregierung auf, die Gespräche mit der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (kurz: Claims Conference) fortzuführen.
Vonseiten der Opposition wurde ebenfalls gefordert, die großen Hürden für die Antragsstellerinnen und Antragssteller abzubauen. Sowohl von der SPD als auch von den GRÜNEN wurde angemerkt, dass weiterhin nicht alle Gruppen der „vergessenen Opfer“ in den Richtlinien Berücksichtigung fänden, so etwa die Kommunistinnen und Kommunisten und die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Auch für die Sinti und Roma habe sich durch die Richtlinien nichts geändert.
Renate Schmidt (SPD) erklärte, dass die SPD an der Errichtung einer Stiftung zur Entschädigung – wie sie es bereits 1987 in einem Antrag gefordert habe – festhalte. Das Stiftungsmodell sei bereits auf Länderebene in Berlin, Hamburg und Bremen erprobt und habe sich bewährt. Es müsse jedoch eine bundeseinheitliche Lösung erarbeitet werden, denn der Wohnort solle nicht ausschlaggeben sein für den Erhalt von Entschädigungsleistungen.
Antje Vollmer (DIE GRÜNEN) kritisierte an den Härterichtlinien, dass es für die Antragsstellerinnen und Antragssteller äußerst schwer sei, eine Bewilligung für eine Opferrente zu erhalten, für die meisten Fälle seien Einmalzahlungen vorgesehen. Im Haushaltsjahr 1988 seien lediglich zehn Renten bewilligt worden, eine davon über einen Betrag von 23 DM monatlich. Die Verfahren seien insgesamt zu bürokratisch und zu langsam. Vollmer unterstellte dem Bundesministerium der Finanzen eine blockierende Haltung hinsichtlich der Entschädigungen und die Beeinflussung der Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundestags. Sie bedauerte den politischen Unwillen der Regierung und der Koalitionsfraktionen, eine Lösung über eine Bundesstiftung unter Beteiligung der Verfolgtenverbände herbeizuführen.
Als Vertreter der Bundesregierung beteiligte sich Friedrich Voss, Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, an der Debatte. Er erklärte, dass die Bundesregierung im Austausch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen stehe. Auf die Frage nach Fällen, die vom Hohen Flüchtlingskommissar aufgrund fehlender Mittel abgelehnt worden seien, habe es noch keine Rückmeldung gegeben. Hinsichtlich des Antrags der Koalitionsfraktionen versicherte er, dass Fälle, bei denen Leistungen aus den Härterichtlinien auf Sozialleistungen angerechnet worden seien, der Bundesregierung nicht bekannt seien. Der vom Bundestag beschlossene Betrag von 300 Mio. DM werden in voller Höhe an die Betroffenen ausgezahlt. Er wies die Vorwürfe der GRÜNEN hinsichtlich des Finanzministeriums zurück. Als Grund, warum die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den Härterichtlinien keine Berücksichtigung fanden, nannte er die Vereinbarungen im Londoner Schuldenabkommen aus dem Jahr 1953. Bei Forderungen hinsichtlich der Entschädigung für Zwangsarbeit handle es sich um Reparationsforderungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, die nur von Staat zu Staat geltend gemacht werden könnten. Auf Nachfrage von Antje Vollmer (DIE GRÜNEN), warum es zwar mit westeuropäischen Staaten entsprechende Abkommen gebe, aber nicht beispielsweise auch mit der Volksrepublik Polen, antwortete Voss, dass die Bundesrepublik aufgrund des Londoner Schuldenabkommens daran gehindert sei, Zahlungen an Staaten zu leisten, die dem Abkommen nicht beigetreten seien.
In der Abstimmung wurde der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN und die Beschlussempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Dokumente
-
Gesetzentwurf der SPD: Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“, Drucksache 11/223, 5.5.1987. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der GRÜNEN: Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, DS 11/1396, 30. 11.1987. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der SPD: Richtlinien der Bundesregierung für die Vergabe von Mitteln an Opfer von NS-Unrecht, DS 11/1413, 2.12.1987. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Beschlußempfehlung des Innenausschusses: Zum Antrag der SPD: Richtlinien der Bundesregierung für die Vergabe von Mitteln an Opfer von
NS-Unrecht, DS 11/2195, 25.4.1988. Quelle: Deutscher Bundestag -
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit: Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, DS 11/2977, 27.11.1988. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Änderungsantrag der CDU/CSU und der FDP zu den Richtlinien der Bundesregierung für die Vergabe von Mitteln an Opfer
von NS-Unrecht, DS 11/4820, 20.6.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
Zwei Stiftungen oder weitere Verbesserungen der Härterichtlinien?
Mitte des Jahres 1989 wurden hinsichtlich der Entschädigung der ehemaligen NS-Zwangsarbeiterinnen und ‑Zwangsarbeiter, die in den Richtlinien der Bundesregierung keine Berücksichtigung fanden, von der Fraktion DIE GRÜNEN weitere Anträge geschrieben.
In einem Entwurf für ein Gesetz „zur Errichtung einer Stiftung ‚Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter‘“ skizzierten DIE GRÜNEN ihr Konzept einer Entschädigung der Personen, die unter NS-Herrschaft Zwangsarbeit verrichten mussten. Danach sollte eine Bundesstiftung eingerichtet werden, die an die entsprechenden Personen Pauschalsummen ausbezahlt. Dafür sollte die Stiftung einerseits über den Bundeshaushalt Mittel erhalten, andererseits sollten sich auch die „ehemaligen Nutznießer der Zwangsarbeit“ – sprich die Unternehmen, die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, oder deren Rechtsnachfolger – an der Finanzierung beteiligen.
Ebendiesen „Nutznießern“ widmete die Fraktion noch einen weiteren Antrag: Darin rief sie den Bundestag auf, die NS-Zwangsarbeit als NS-Unrecht zu erklären, das einer Entschädigung bedürfe. Bisher vertrat der Bundestag die Auffassung, dass es sich bei der NS-Zwangsarbeit um Kriegshandlungen handelte, die als Reparationsanspruch erst nach Abschluss eines Friedensvertrags mit den ostmitteleuropäischen Ländern (aus denen ein Großteil der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter stammte) realisiert werden könnten. Des Weiteren solle – so der Antrag der GRÜNEN – der Bundestag die Bundesregierung auffordern, alle möglichen politischen und rechtlichen Schritte zu unternehmen, die Unternehmen und ihre Rechtsnachfolger, die während des Nationalsozialismus Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, zur Zahlung von Entschädigungsleistungen zu bewegen. Bei allen Bundesunternehmen und Unternehmen mit Bundesbeteiligung, deren Rechtsvorgänger von der Zwangsarbeit unter der NS-Herrschaft profitiert haben, solle der Bundestag die Bundesregierung auffordern, auf eine unverzügliche Entschädigung der dort früher beschäftigten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hinzuwirken. Kommunen, die von der Zwangsarbeit profitiert hatten, sollten ebenfalls Mittel in die zu errichtende Bundesstiftung einzahlen.
In einem dritten Antrag forderten DIE GRÜNEN eine „Individualentschädigung für ehemalige polnische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter unter der NS-Herrschaft durch ein Globalabkommen“. Die Bundesrepublik Deutschland hatte in den 1950er- und 1960er-Jahren bereits mit mehreren westeuropäischen Ländern Globalabkommen abgeschlossen. Sie zahlte einen bestimmten Betrag an das jeweilige Land und dieses entschied dann über die Zahlung von Entschädigungen an bestimmte Personengruppen. Eine ähnliche Regelung forderte nun der Antrag der GRÜNEN für die Volksrepublik Polen. Das Abkommen sollte dazu führen, dass ehemalige NS-Zwangsarbeiterinnen und ‑Zwangsarbeiter aus Polen, individuell entschädigt werden könnten. Die Bundesrepublik, so der Antrag, habe als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs die politische Verpflichtung, diese Personen zu entschädigen. Bereits im Statut der Nürnberger Prozesse sei festgelegt worden, dass es Ansprüche auf Entschädigungen aus Zwangsarbeit und Deportation gebe, und auch eine Entschließung des Europäischen Parlaments im Jahr 1986 zu „Entschädigungsleistungen für ehemalige Sklavenarbeiter der deutschen Industrie“ sah eine „klare moralische und rechtliche Verpflichtung der Firmen, die Sklavenarbeiter beschäftigt haben, Entschädigungsleistungen zu zahlen.“ Die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hätten inzwischen ein so hohes Alter erreicht, dass die Zeit dränge. Das Jahr 1989 wäre aufgrund des 50. Jahrestags des Überfalls auf Polen ein guter Zeitpunkt, um als symbolische Geste ein Globalabkommen mit Polen abzuschließen.
Die SPD-Fraktion, deren Position in der Debatte darin bestanden hatte, dass sie für alle Gruppen der „vergessenen Opfer“ eine Stiftungslösung zur Entschädigung verfolgte, entschied sich nun, zwei Stiftungen zu fordern: Eine Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“, die sich weiterhin den sogenannten „vergessenen Opfern“ widmen sollte und eine weitere Stiftung zur Entschädigung speziell der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Der Antrag der SPD zur „Errichtung einer Stiftung ‚Entschädigung für Zwangsarbeiter‘“ zielte darauf ab, die Bundesregierung zu beauftragen, eine Stiftung „Entschädigung für Zwangsarbeit“ einzurichten. Der Antrag folgte hinsichtlich der moralischen und politischen Verpflichtung der Bundesrepublik der Argumentation der Anträge der GRÜNEN. Außerdem reichte die grüne Fraktion einen Änderungsantrag zur zweiten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1990 ein, nachdem für eine Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ 250 Mio. DM eingeplant werden sollten.
Für die sogenannten „Nationalgeschädigten“ sah die SPD vor, den Härtefonds beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen aufzustocken.
Das Bild zeigt Ukrainerinnen, die auf einem Staatsgut in der Nähe Berlins als Zwangsarbeiterinnen eingesetzt wurden. Aufgenommen im August 1943.
Dokumente
-
Gesetzentwurf der GRÜNEN: Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“, DS 11/4704, 6.6.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der GRÜNEN: Politische und rechtliche Initiativen der Bundesregierung gegenüber den Nutznießern der NS-Zwangsarbeit, DS 11/4705, 6.6.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der der GRÜNEN: Individualentschädigung für ehemalige polnische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter unter der NS-Herrschaft durch ein Globalabkommen, DS 11/4706, 6.6.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der SPD: Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht„, DS 11/4838, 21.6.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der SPD: Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für Zwangsarbeit„, DS 11/5176, 14.9.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Änderungsantrag der GRÜNEN zum Entwurf des Haushaltsgesetzes 1990, DS 11/5797, 23.11.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der SPD: Aufstockung des Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, DS 11/4841, 21.6.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
Am 11. September 1989 unterrichtete die Bundesregierung den Bundestag über die „Verbesserung der in den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes vorgesehen Leistungen und Erleichterungen bei der Beweisführung“. Die Unterrichtung bezog sich vor allem auf die Gruppe der Zwangssterilisierten. Der Grad der Behinderung, der durch die Zwangssterilisation hervorgerufen worden war, wurde von zuvor 40 % auf 25 % herabgesetzt, nachzuweisen sei der Grad der Behinderung weiterhin durch einen Facharzt und nicht – wie zuvor von Vertreterinnen und Vertretern verschiedenen politischer Kräfte gefordert – durch den Hausarzt. Der Fragebogen über den Gesundheitszustand sei verbessert worden. Außerdem wurde ein Freibetrag von 300 DM festgelegt, bis zu dem eine ausgezahlte Rente nicht auf die Sozialhilfe angerechnet werden dürfe.
Wenige Tage später wurde auch von den Koalitionsfraktionen ein Antrag gestellt, der folgendes Ziel verfolgte: „Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, bis zum 31. Dezember 1989 über vorhandene private Initiativen zu berichten, die im Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges bisher ergriffen wurden.“ Ein weiterer Antrag widmete sich den sogenannten „Nationalgeschädigten“. Auch dieser enthielt eine Aufforderung an die Bundesregierung. Die Regierung solle den Bundestag über den Härtefonds beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen unterrichten.
Über all diese Anträge wurde in der Plenarsitzung vom 28. September 1989 in der ersten Lesung beraten. In der Debatte wurde der immer größer werdende Disput zwischen der Legislativen (dem Bundestag) und der Exekutiven (der Bundesregierung) deutlich.
Es standen wiederum drei Themenkomplexe zur Diskussion:
- Die Frage, ob die Entschädigung der „vergessenen Opfer“ weiterhin über die Härteregelungen der Bundesregierung verfolgt werden solle, oder ob ein Stiftungsmodell die bessere Lösung sei.
- Die Frage der Entschädigung der ehemaligen NS-Zwangsarbeiterinnen und ‑Zwangsarbeiter.
- Die Frage der Entschädigung der Gruppe der „Nationalgeschädigten“, die durch den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen abgewickelt wurde.
Vonseiten der CDU/CSU wurde die Unterrichtung der Bundesregierung zwar begrüßt, es sei jedoch ein weiterer Einsatz für die „vielen alten und kranken Menschen […] dringend erforderlich“. Die von der Bundesregierung auf Wunsch des Bundestags durchgeführten Nachbesserungen der Härteregelungen ermutigten jedoch, bei dieser Lösung zu bleiben und der Gründung einer Stiftung nicht zuzustimmen. Hinsichtlich der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter könne aufgrund des Londoner Schuldenabkommens nichts unternommen werden. Private Initiativen – also Entschädigungszahlungen, die von Unternehmen ausgingen – könnten jedoch erweitert werden. Es hätten bereits mehrere deutsche Unternehmen Millionenbeträge zur Entschädigung gezahlt. Um einen besseren Überblick über diese Zahlungen zu erhalten, hätten die Koalitionsfraktionen einen Antrag gestellt. Auch die „Probleme, die im Zusammenhang mit den Nationalgeschädigten stehen, bedürften einer eingehenden Darstellung und einem Bericht der Bundesregierung“. Durch den Bundesfinanzminister sei inzwischen eine Aufstockung des Fonds um zwei Millionen DM in Aussicht gestellt worden.
Auch bei der FDP wurde Unmut laut. Der Regierungsbericht könne nicht das „letzte Wort“ sein, so Wolfgang Lüder. Er forderte von der Bundesregierung mehr Rücksichtnahme, insbesondere hinsichtlich der Gruppe der Zwangssterilisierten. Die Stiftungslösungen lehne die FDP ab. Der Antrag der Koalitionsfraktionen hinsichtlich einer Berichterstattung über private Initiativen zur Entschädigung von Zwangsarbeit diene als Entscheidungsgrundlage, um dann „Neues und mehr zu machen“. In Härtefällen müsse es auch Lösungen für diese Betroffenengruppe geben. Hinsichtlich der „Nationalgeschädigten“ diene der Antrag der Koalitionsfraktionen dazu, Druck auf die Regierung auszuüben. Innerhalb der FDP-Fraktion wurden jedoch auch andere Meinungen laut: Hildegard Hamm-Brücher erklärte, dass sie sich vor zwei Jahren zunächst mit dem Argument habe beschwichtigen lassen, dass eine „Fondslösung“ (nach den Härterichtlinien) schneller helfen könne als eine Stiftung. Nun sehe man jedoch, dass dies nicht der Fall sei. Wenn es nicht gelinge, bis Ende 1989 eine „glaubhafte Lösung“ herbeizuführen, werde sie als Abgeordnete der Koalitionsfraktionen für eine Stiftung stimmen. Die Opfer stünden an ihrem Lebensende. Man müsse daher schnell handeln.
Antje Vollmer (DIE GRÜNEN) bezeichnete die von der Regierung und den Koalitionsfraktionen immer wieder ins Feld geführte Argumentation, das Londoner Schuldenabkommen verhindere eine Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, als „eine gigantische Lüge und Betrügerei, eine der größten unserer Nachkriegsgeschichte. Sie ist nicht einmal durch den Wortlaut des Abkommens gerechtfertigt. Sie stellt es geradezu auf den Kopf.“ Das sei bewiesen durch den Umstand, dass mehrere westeuropäische Staaten in der Folgezeit sogenannte Globalabkommen mit der Bundesrepublik geschlossen hätten, durch die daraus resultierten Zahlungen seien in den entsprechenden Ländern auch ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter entschädigt worden. Im Londoner Schuldenabkommen sei es um Reparationen (Folgen aus Kriegshandlungen) gegangen. Vollmer forderte daher den Bundestag auf, die Zwangsarbeit zum NS-Unrecht, das einer Entschädigung bedürfe, zu erklären und nicht wie bisher als Kriegsfolge anzusehen. Zusätzlich zu den Anträgen der GRÜNEN sei es in näherer Zukunft notwendig, auch das Rentenrecht zu reformieren. Aktuell könnten sich ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter die Jahre der Zwangsarbeit nicht für die Rente anrechnen lassen.
Vollmer warf den Koalitionsfraktionen vor, durch ihre Anträge eine Verzögerungsstrategie zu verfolgen. Am Antrag der SPD hinsichtlich einer Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeit kritisierte sie, dass ausländische Betroffene schlechter gestellt werden würden als deutsche.
Vonseiten der SPD-Fraktion wurde erklärt, dass bereits die Sachverständigenanhörung im Innenausschuss im Jahr 1987 ergeben habe, dass eine Stiftung die praktikabelste Lösung zur Entschädigung der „vergessenen Opfer“ sei. Für eine Stiftung spräche, dass auch Vertreterinnen und Vertreter aus der Gruppe der Geschädigten beteiligt werden könnten. Die bürokratischen Hürden der aktuellen Praxis könnten nicht „im Sinne des Gesetzgebers“ sein. Uwe Lambinus (SPD) warb für die Stiftung zur Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter: „Wir können diesen Menschen heute nicht ihre gestohlene Jugend und ihre geraubte Gesundheit zurückgeben. Aber wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen, die schlimmsten Folgen zu lindern und dies darf nicht länger an formaljuristischen Spitzfindigkeiten […] scheitern.“ Eine Stiftung könnte hier schnell und unbürokratisch handeln, außerdem sei der Gegenstand dann aus den Händen des Bundesfinanzministeriums genommen. Renate Schmidt (SPD) pflichtete Antje Vollmer (DIE GRÜNEN) bei: Es könne nicht sein, dass mit westeuropäischen Ländern Globalabkommen abgeschlossen worden seien, mit deren Mittel ehemalige Zwangsarbeiter entschädigt worden waren, dies aber für andere Länder nicht ginge.
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Manfred Carstens, legte die Sichtweise der Regierung dar. An den bisherigen Grundsätzen der Entschädigungspolitik könne nichts geändert werden. Die Vorschläge der Opposition führten dazu, dass die Personen, die erst jetzt Ansprüche geltend machten, bessergestellt wären als die, die es schon früher getan hätten. Das wäre „grob ungerecht“. Man könne die alten Verfahren auch nicht wieder aufrollen, daher sei es folgerichtig, die neuen Fälle nach den gleichen Grundsätzen zu behandeln. Eine Stiftung müsse sich ebenfalls an diese gesetzlichen Regelungen halten und könne daher auch nicht schneller agieren. Durch eine Stiftung werde zudem der Gesetzgeber aus der Verantwortung genommen. Das sei nicht erstrebenswert. Die Bundesregierung habe aber inzwischen ihre Richtlinien verbessert, sodass die vom Bundestag bewilligten 300 Mio. DM nun besser abfließen könnten.
Hinsichtlich der „Nationalgeschädigten“ führe die Bundesregierung Verhandlungen mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, die in Kürze abgeschlossen werden könnten. Der Hohe Flüchtlingskommissar werde dann wieder in der Lage sein, Härtebeihilfen zu gewähren.
Eine Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter – wie es die Opposition vorsah – sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Auch die Globalabkommen mit mehreren westeuropäischen Ländern seien nicht für die Entschädigung von Zwangsarbeit, sondern für die Entschädigung der Verfolgung aus „rassischen, politischen, weltanschaulichen und religiösen Gründen“ geleistet worden. Die Volksrepublik Polen – mit der nach dem Antrag der GRÜNEN ein Globalabkommen abgeschlossen werden sollte – habe bereits 1953 auf Reparationen verzichtet und dies 1970 im Warschauer Vertrag bestätigt.
Die Anträge wurden in die Ausschüsse überwiesen. Die beiden Entschließungsanträge der Koalitionsfraktionen wurden angenommen.
Im November 1989 starteten DIE GRÜNEN eine weitere Initiative, die auf die sozialversicherungsrechtliche Besserstellung der „vergessenen Opfer“ abzielte.
Am 14. Dezember 1989 fand eine Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestags statt, die das Ergebnis erbrachte, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht rechtlich gehindert sei, für die große Zahl ehemaliger polnischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter Leistungen zu erbringen.
Am 22. Januar 1990 berichtete die Bundesregierung über private Initiativen zur Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Mitte September 1990 legte der Innenausschuss seine Beschlussempfehlung zur Unterrichtung der Bundesregierung zur „Verbesserung der in den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfern von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes vorgesehenen Leistungen und Erleichterungen bei der Beweisführung“ sowie über den Antrag der Fraktion der SPD zur „Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ vor. Die Kernfrage der Beratungen des Innenausschusses zu den beiden Drucksachen war, ob man an den bisherigen Regelungen über Härteleistungen festhalten oder einem Stiftungsmodell, wie von der SPD vorgeschlagen, zustimmen sollte. Der Innenausschuss begrüßte die Verbesserungen der Härterichtlinien durch die Bundesregierung. Die Bundesregierung hatte abseits ihres Berichts angeregt, von den 300 Mio. DM, 180 Mio. DM zur Entschädigung von jüdischen Opfern aufzuwenden. Dieser Betrag solle von der Claims Conference verwaltet werden. Hintergrund war, dass durch die politischen Umwälzungen ist Osteuropa viele Jüdinnen und Juden aus diesen Ländern auswanderten und durch die gesetzlichen Regelungen der Nachkriegszeit noch keine Entschädigung bekommen hatten. Auch dieser Vorschlag fand Unterstützung im Innenausschuss. Der Ausschuss diskutierte auch darüber, dass durch die neue politische Lage der 1987 beschlossene Betrag von 300 Mio. DM möglicherweise nicht ausreichend sei, alle Opfer wie geplant zu entschädigen.
Die Idee der Errichtung einer Stiftung, wurde im Innenausschuss abgelehnt. Der Bundesminister der Finanzen, Theo Waigel, hatte sich in einer Stellungnahme gegen die Stiftungslösung positioniert, da er „erhebliche verfassungsrechtliche, entschädigungsrechtliche, organisatorisch-personelle und finanzielle Bedenken“ hätte. Dieser Auffassung folgte die Mehrheit des Innenausschusses gegen die Stimmen der Opposition, die die Argumente des Finanzministers nicht als „unüberwindbare“ Hindernisse einstufte.
Anfang Oktober 1990 legte der Innenausschuss dann seine Beschlussempfehlung zu den Anträgen, die der Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeit gewidmet waren, vor. Der Ausschuss empfahl, die Bundesregierung aufzufordern, eine Fondslösung für Härteleistungen an Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu prüfen, Kontakte mit der Privatwirtschaft aufzunehmen, die Höhe der benötigten Mittel festzustellen und dem Deutschen Bundestag bis zum 31. Dezember 1990 zu berichten. Die Anträge der GRÜNEN sowie der Antrag der SPD zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für Zwangsarbeit“ empfahl er abzulehnen. Zu der Beschlussempfehlung legte die Fraktion DIE GRÜNEN einen Änderungsantrag vor, der die Bundesregierung aufforderte, unverzüglich Verhandlungen mit den ost- und südosteuropäischen Staaten aufzunehmen, um mit diesen Staaten Globalabkommen abschließen zu können.
Über beide Beschlussempfehlungen beriet der Deutsche Bundestag am 31. Oktober 1990 also schon als gesamtdeutsches Parlament. Vonseiten der Oppositionsfraktionen wurde Unmut hinsichtlich beider Beschlussempfehlungen geäußert. Laut Antje Vollmer (DIE GRÜNEN) sei durch die Beschlussempfehlung hinsichtlich der NS-Zwangsarbeit nichts gewonnen und auch die Beschlussempfehlung hinsichtlich der Härterichtlinien der Bundesregierung werde nichts an der restriktiven Ausgabe der Gelder ändern. Viele Opfergruppe seien nach wie vor benachteiligt.
Die seit dem 4. Oktober 1990 im Parlament vertretene PDS unterstützte die Anträge der GRÜNEN und der SPD und positionierte sich gegen die Beschlussempfehlungen.
Laut CDU/CSU sei es in der Wahlperiode 11 gelungen, in vielerlei Hinsicht Fortschritte hinsichtlich der Entschädigungspolitik zu erzielen. Es seien „nicht unerhebliche Entschädigungsleistungen“ durchgesetzt worden. Das Thema müsse jedoch weiter betrieben werden, in der kommenden Legislaturperiode sei durch die Einbeziehung der neuen Bundesländer zu prüfen, ob „andere Instrumente der Wiedergutmachungspolitik als die seit 1980 eingeführten Härtefonds geschaffen werden müssen.“
Auch die FDP erklärte, dass man in der Legislaturperiode „Beachtliches geleistet“ habe, wenngleich man auch manche enttäuscht hätte. Hildegard Hamm-Brücher (FDP) positionierte sich innerhalb ihrer Fraktion, indem sie erklärte, dass sie zwar der Beschlussempfehlung hinsichtlich der Härteregelungen der Bundesregierung zustimmen, jedoch ebenso den Antrag der SPD zur Errichtung einer Stiftung unterstützen werde. Sie äußerte die Hoffnung, dass der Bundestag in der Wahlperiode 12 die Idee einer Stiftung noch einmal aufgreifen werde, da dies die einzige unbürokratische Form sei, das Problem zu lösen. Sie betonte, dass die Debatte in der Wahlperiode 11 zumindest gezeigt hätte, dass sich die Legislative (der Bundestag) gegen die Exekutive (die Bundesregierung) behaupten könne und eine Initiative ergreifen könne, die „von seiten der Regierung [niemals] ergriffen worden wäre.“
Die Beschlussempfehlungen wurden durch die Mehrheit der Koalitionsfraktionen und gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Der Änderungsantrag der GRÜNEN wurde durch die Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
In der Wahlperiode 12 wurde die Debatte um die Entschädigung der „vergessenen Opfer“ und der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor dem Hintergrund der neuen politischen Lage nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ weiter debattiert.
Erst in der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN am 27. August 1998 wurde die Einrichtung einer Bundesstiftung für die Entschädigung für NS-Zwangsarbeit unter Beteiligung der deutschen Industrie vereinbart. Am 2. August 2000 wurde schließlich das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – EVZ verabschiedet.
Dokumente
-
Antrag der SPD: Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“, DS 11/4838, 21.6.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Unterrichtung durch die Bundesregierung: Verbesserung der in den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes vorgesehenen Leistungen, DS 11/5164, 11.9.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der CDU/CSU und der FDP: Bericht über private Initiativen im Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs, DS 11/5254, 27.9.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der CDU/CSU und der FDP: Bericht über den Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, DS 11/5255, 27.9.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Entschließungsantrag der GRÜNEN zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, DS 11/5547, 7.11.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über vorhandene private Initiativen, die im Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges ergriffen wurden, DS 11/6286, 22.1.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu den Drucksachen 11/5164 und 11/4838, DS 11/7899, 18.9.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu den Drucksachen 11/4704, 11/4705, 11/4706, 11/5176 und 11/6286, DS 11/8046, 5.10.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Änderungsantrag DIE GRÜNEN/Bündnis 90 zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses, Drucksache 11/8046, DS 11/8350, 29.10.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
Initiativen zur Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz
Neben einer Entschädigung ist die Rehabilitierung (also die Aufhebung von Unrechtsurteilen, die von einem diktatorischen Regime zumeist gegen Oppositionelle verhängt wurden) ein zentrales Instrument zum Umgang mit den Opfern von Diktaturen. In den Jahren 1989 und 1990 kam es im Bundestag zu mehreren Initiativen zur Rehabilitierung bestimmter Personengruppen.
So setzte sich die Fraktion DIE GRÜNEN nicht nur für eine Entschädigung der „vergessenen Opfer“ des Nationalsozialismus, sondern auch für die Rehabilitierung einer bestimmten Gruppe der „vergessenen Opfer“ ein: Es handelte sich um Kriegsdienstverweigerer, Wehrmachtsdeserteure und weitere Personen, die im Nationalsozialismus von der Militärjustiz etwa als sogenannte „Wehrkraftzersetzer“ verurteilt worden waren – diese Personen wurden auch als Opfer der NS-Militärjustiz bezeichnet.
In einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung im Juli 1989 unter der Überschrift „Kriegsdienstverweigerer, Deserteure, ‚Wehrkraftzersetzer‘ und andere, von der Militärjustiz unter der NS-Herrschaft Verfolgte und Verurteilte“ wurden die Motive für diesen Vorstoß deutlich. Ende der 1980er-Jahre mehrten sich geschichtswissenschaftliche Publikationen zur Wehrmachtsjustiz und dem Schicksal der deutschen Deserteure im Zweiten Weltkrieg. Der Militärjustiz – so ist dem Antrag der GRÜNEN zu entnehmen – fielen mehrere zehntausend Menschen zum Opfer. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die hauptsächlich aus politischen oder religiösen Gründen gehandelt hätten, seien in der Endphase des Zweiten Weltkriegs „fast ausnahmslos hingerichtet“ worden. Zu der Gruppe der sogenannten „Wehrkraftzersetzer“ gehörten z.B. Personen, die sich hinsichtlich des Kriegs „defaitistisch“ (also hoffnungslos oder mutlos) geäußert hätten. Die neuere geschichtswissenschaftliche Forschung widerspreche dem noch in den 1980er Jahren vorherrschenden Bild der „sauberen Wehrmacht“, die politisch unschuldig an den Verbrechen des NS-Regimes gewesen sei. Der Erklärung der Bundesregierung aus dem Jahr 1986, dass Verurteilungen wegen Fahnenflucht, Kriegsdienstverweigerungen usw. auch in anderen rechtsstaatlichen Ländern praktiziert worden seien und diese daher auch nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen hätten, widersprach die Fraktion der GRÜNEN. Sie forderte, dass die genannten Personen 1989, im Jahr des vierzigjährigen Bestehens der Bundesrepublik, „endlich als NS-Opfer anerkannt und rehabilitiert“ werden. Die Fraktion stellte einen Katalog von 35 Fragen an die Bundesregierung, darin wurde u.a. Aufklärung über die Zahl an Todesurteilen und deren Vollstreckung durch die Militärgerichtsbarkeit erbeten, auch in Abgrenzung zu den Verurteilungen und Vollstreckungen des Volksgerichtshofs. Weitere Fragen zielten auf der Abgrenzung der Verurteilungen der NS-Militärgerichtsbarkeit gegenüber demokratischen Staaten während des Zweiten Weltkriegs (von deutscher Seite seien ca. 15.000 Todesurteile wegen Desertion gefällt und vollstreckt worden, während Großbritannien und die USA gemeinsam lediglich eine Verurteilung zum Tode vollstreckt hätten) und gegenüber der deutschen Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg (lediglich 48 vollstreckte Todesurteile) ab. Außerdem erbaten DIE GRÜNEN von der Bundesregierung eine Bewertung des Zweiten Weltkriegs als „brutalen Eroberungskrieg mit dem Ziel der Versklavung ganzer Völker und der Ausrottung bestimmter Rassen“ sowie ein Abrücken von der Vorstellung der „politischen Neutralität der Wehrmacht“ und damit „Achtung und Anerkennung“ gegenüber denjenigen, die sich geweigert hatten, an diesem Krieg mitzuwirken. Sie stellte weiterhin die Frage, ob man Kriegsdienstverweigerer und Deserteure nicht genauso achten solle, wie Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Die Bundesregierung sollte auch der weitverbreiteten Auffassung widersprechen, dass die Deserteure und Verweigerer aus Feigheit und damit aus „niederen Beweggrüngen“. Ein weiterer Fragenkomplex befasste sich mit dem öffentlichen Gedenken an die Deserteure und die weitere Forschung zur Kriegsdienstverweigerung und einer möglichen Förderung durch die Bundesregierung.
Die Bundesregierung beantwortete den Fragenkatalog der Kleinen Anfrage im September 1989 mit der Bemerkung, dass es nicht Aufgabe der Bundesregierung sei, historische Forschung zu betreiben. Desertion während des Zweiten Weltkriegs „generell als einen Akt politisch motivierten Widerstands zu legitimieren“, sei weder historisch noch ethisch zu rechtfertigen. Dadurch würden die Wehrmachtssoldaten, die nicht desertiert hätten, ins Unrecht gesetzt werden. Ihre Loyalität und „Vaterlandsliebe“ sei jedoch vom NS-Regime auf tragische Weise für verbrecherische Zwecke missbraucht worden. Sicherlich hätte es unter den Deserteuren auch Personen gegeben, die aus „achtbaren Motiven“ gehandelt hätten. Die Ehrung des Deserteurs schlechthin sei jedoch „eine undifferenzierte Wertung, die den Schluß zuläßt, Desertion sei generell in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft achtbar und legitim. Dies ist in der pauschalen Wertung eine Abwertung soldatischer Pflichterfüllung. Desertion ist in den Streitkräften aller Staaten strafbar.“ Hinsichtlich einer erinnerungskulturellen Würdigung beteuerte die Bundesregierung u.a., dass sie die Auffassung der Stadt Bonn teile, die sich gegen ein „Denkmal für den unbekannten Deserteur“ ausgesprochen hatte, da dies diejenigen verhöhne, die im Krieg gekämpft hatten, um ihrem Vaterland zu dienen. Eine Entscheidung über Fragen der Entschädigung und Rehabilitierung könne nur bei Einzelfällen und nach Überprüfungen stattfinden. Die Bundesregierung verwies auf die von ihr seit Jahren geplante zentrale Mahn- und Gedenkstätte in Bonn, die den Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaft gewidmet sein werde. Sie solle alle Opfergruppen miteinschließen.
Im Bürgerhaus in Bremen-Vegesack wurde 1986 das erste öffentliche Denkmal für Wehrmachtsdeserteure eingeweiht. Das Denkmal löste eine kontroverse Debatte aus.
Am 29. August 1990 stellten DIE GRÜNEN einen Antrag auf „Rehabilitierung und Entschädigung der unter der NS-Herrschaft verfolgten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und ‚Wehrkraftzersetzer‘“. Darin rief die Fraktion den Bundestag zu der Erklärung auf, dass den genannten Personen „vom NS-Regime schwerwiegendes Unrecht angetan worden“ sei und dass sie als NS-Opfer anzuerkennen seien. Der Bundestag solle sich für die „Rehabilitierung dieser von der Öffentlichkeit, Politik und Justiz der Bundesrepublik Deutschland über 45 Jahre mißachteten Menschen“ aussprechen. Des Weiteren solle der Bundestag die weitere geschichtswissenschaftliche Erforschung der Taten, Täter und Opfer der Militärjustiz während des Nationalsozialismus finanziell unterstützen. Auch die in den vergangenen Jahren sich in Ansätzen herausbildende Erinnerungskultur um die Opfer der NS-Militärjustiz solle unterstützt und öffentlich gefördert werden. Die Bundesregierung solle aufgefordert werden, einen Gesetzesentwurf zur „Anerkennung und Entschädigung der Opfer der Militärjustiz und der Militärpsychiatrie unter dem NS-Regime vorzulegen“.
Begründet wurden diese Anliegen im Antrag wie bereits bei der Kleinen Anfrage vom Juli 1989. DIE GRÜNEN unterfütterten ihre Argumentation mit neuen Forschungsergebnissen zum Ausmaß der Verfolgung. Personen, die von der Militärjustiz nicht zum Tode, sondern zu Haftstrafen verurteilt worden waren, mussten Zuchthaus- und Gefängnisstrafen über sich ergehen lassen, die „von einer unmenschlichen Brutalität“, von „totaler Rechtlosigkeit“ und „absoluter Willkür“ geprägt gewesen seien. In den sogenannten „Emslandlagern“ seien tausende an den „unmenschlichen Behandlungsmethoden und Haftbedingungen“ gestorben. Andere Soldaten, die psychisch erkrankten, seien „aggressiven Behandlungsmethoden“ der Militärpsychiatrie, wie beispielsweise Elektroschocks, unterzogen worden. Erzielten diese „Behandlungen“ nicht das gewünschte Ergebnis einer Weiterverwendbarkeit als Soldat, so seien die Erkrankten in den Tötungsanstalten des sogenannten „Euthanasie“-Programms oder in den Konzentrationslagern ermordet worden.
Grundsätzlich plädierten DIE GRÜNEN in ihrem Antrag für eine Neubewertung der NS-Militärjustiz und auch generelle der Wehrmacht innerhalb des NS-Staats. Die Trennung zwischen „verbrecherischen Organisationen“ (wie SS, Gestapo usw.) und der immer noch als neutral bewerteten Wehrmacht, der die Militärjustiz unterstellt war, sei nicht mehr haltbar. Ohne die Wehrmacht seien die Vernichtungsaktionen des NS-Regimes in den besetzten Ländern nicht möglich gewesen. Die Militärjustiz und -psychiatrie hätten eine dem „NS-System dienende Funktion“ gehabt. Das Militärrecht sei an die Ziele des NS-Regimes angepasst worden. Empörung äußerte die Fraktion der GRÜNEN auch über die Tatsache, dass die Opfer der Militärjustiz weiter stigmatisiert, nicht entschädigt und rehabilitiert worden seien, die Täter (Richter der NS-Militärjustiz) hingegen hätten ihre Karrieren als unbescholtene Bürger in der Bundesrepublik fortsetzen können. Die Fraktion sehe kein „logisches Verhältnis“ hinter der Argumentation der Bundesregierung, eine Anerkennung der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer stelle die anderen Wehrmachtssoldaten ins Unrecht: „Angesichts der objektiven Tatsache, daß die Kriege des NS-Staats verbrecherische Kriege waren, wäre zudem sicherlich eine Debatte über die Frage einer ‚Mitschuld‘ der Soldaten bzw. der Wehrmacht allgemein historisch angemessener als über die Berechtigung, die Mitwirkung an diesen Kriegen zu verweigern.“ Für die Organisation der Entschädigung der Opfer der NS-Militärjustiz schlug die Fraktion die Gründung einer Bundesstiftung vor, in deren „Entscheidungskörpern“ Vertreter der Verfolgten beteiligt werden sollten.
Der Antrag wurde am 20. September 1990 gemeinsam mit den Anträgen der GRÜNEN zur Errichtung der Gedenkstätten in Hadamar und Salzgitter-Drütte beraten.
Von der Bundestagsfraktion der CDU/CSU wurde bezweifelt, dass es eines eigenen Gesetzes zur Entschädigung der Opfer der NS-Militärjustiz bedürfe. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen schlössen die genannte Personengruppe bereits ein. Sorgfältige Einzelfallprüfungen seien in diesen Fällen notwendig, daher seien bislang nur sehr wenige Anträge aus dem Personenkreis bewilligt worden.
Von der SPD wurde vorgeschlagen, über folgende Punkte zu diskutieren: Erstens über eine Neubewertung und Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung und der sogenannten „Wehrkraftzersetzung“ aus Gewissensgründen als Widerstand gegen die „Nazi-Herrschaft“, zweitens müssten die Opfer und ihre Angehörigen Entschädigungen erhalten, drittens bedürfe es einer Forschungsstelle, die dem „Schicksal der Betroffenen“ nachgehen könne. Dies stünde auch im „Geist der Rede, die unser Bundespräsident am 8. Mai 1985 gehalten hat“, viertens könnten die mit der Entschädigung verbundene Kosten über die von der SPD vorgeschlagenen Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ berücksichtigt werden, fünftens müssten die Wehrmachtsdeserteure und Kriegsdienstverweigerer des Zweiten Weltkriegs geehrt werden und wie Opfer des Kriegs und der Gewaltherrschaft behandelt werden.
Vonseiten der FDP wurde in der Debatte nicht auf den Antrag eingegangen.
Der Antrag wurde zur Beratung in die Ausschüsse überwiesen. Am 30. Oktober 1990 legte der Innenausschuss seine Beschlussempfehlung vor. Der Ausschuss schlug vor, dass der Bundestag folgender Entschließung zustimmen sollte: „Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verfolgten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und ‚Wehrkraftzersetzer‘ im Rahmen der geltenden entschädigungsrechtlichen Regelungen, insbesondere nach den Härterichtlinien entsprechend dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz Wiedergutmachungsleistungen erhalten. Er hält daher eine über die bestehenden Vorschriften hinausgehende besondere Wiedergutmachungsregelung für diesen Personenkreis nicht für erforderlich. Er bittet gleichzeitig die Bundesregierung sicherzustellen, daß bei der Anwendung der einschlägigen Wiedergutmachungsvorschriften auf diesen Personenkreis eine dem jeweiligen Einzelfall gerecht werdende Entscheidung getroffen werden kann.“ Weiterhin empfahl der Ausschuss, den Antrag der GRÜNEN als erledigt zu erklären. Der Innenausschuss war zu dieser Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Ausschussmitglieder aus den Reihen der Fraktionen CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Opposition gelangt. Die Fraktion DIE GRÜNEN stellte im Ausschuss noch einmal klar, dass sie der Entschließung nicht zustimmen könnte. Von 100.000 betroffene Personen hätten nach geltender Gesetzgebung lediglich 13 Personen Einmalzahlungen und acht Personen laufende Zahlungen erhalten. Einvernehmen bestand im Ausschuss jedoch darin, die von den GRÜNEN aufgezeigte Problematik in der Wahlperiode 12 „erneut aufzugreifen und einer tiefgreifenden Behandlung zu unterziehen. Diese Behandlung wird nach Auffassung des Ausschusses in einem breiten Kontext geführt werden müssen, wobei Fragen der Entschädigung von Opfern der NS-Herrschaft bis 1945, von Opfern der DDR-Gewaltherrschaft von 1949 bis 1989 sowie die Problematik der Besatzereingriffe von 1945 bis 1949 zur Debatte stehen werden.“
Der Bundestag beriet über die Beschlussempfehlung am 31. Oktober 1990 gemeinsam mit zahlreichen weiteren Beschlussempfehlung etwa hinsichtlich der Initiativen zur Entschädigung der „vergessenen Opfer“ und der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Der Beschlussempfehlung wurde zugestimmt.
In der Wahlperiode 12 kam es jedoch zu keiner weiteren Debatte hinsichtlich der Opfer der NS-Militärjustiz. Erst 2002 wurden Personen, die während des Nationalsozialismus wegen „Wehrkraftzersetzung“, Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht verurteilt worden waren, rehabilitiert.
Herta Däubler-Gmelin (zur Zeit der deutschen Einheit stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion) spricht über zentrale Themen der Aufarbeitung der NS-Diktatur in den 1980er- und 1990er-Jahren. Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung
Dokumente
-
Kleine Anfrage der GRÜNEN: Kriegsdienstverweigerer, Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“ und andere, von der Militärjustiz unter der NS-Herrschaft Verfolgte und Verurteilte, DS 11/4920, 4.7.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der GRÜNEN, DS 11/5218, 21.9.1989. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Antrag der GRÜNEN: Rehabilitierung und Entschädigung der unter der NS-Herrschaft verfolgten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“, DS 11/7754, 29.8.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Beschlussempfehlung des Innenausschusses zur Drucksache 11/7754, DS 11/8389, 30.10.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
Das „Denkmal für den unbekannten Deserteur“ von Bildhauer Mehmet Aksoy steht auf einer Ecke des Platzes der Einheit. Die für den Friedensplatz in Bonn vorgesehene Skulptur aus dem Jahr 1989 konnte zunächst nicht öffentlich gezeigt werden, da die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure zu der Zeit noch umstritten war. So fand das Denkmal aus Carrara-Marmor als Dauerleihgabe ein Jahr später einen Platz in der Bonner Partnerstadt Potsdam.
Das Gesetz zur Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile
Anfang 1990 gab es für die Beseitigung von nationalsozialistischen Unrechtsurteilen keine einheitliche bundesweite gesetzliche Regelung. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren in den drei westlichen Besatzungszonen hierzu Gesetze erlassen worden. Für die Bundesländer in der ehemals britischen Besatzungszone wurde die sie betreffende Regelung jedoch 1968 im Zuge einer Rechtsbereinigung aufgehoben, da man davon ausging, dass kein Bedürfnis zur Aufrechterhaltung mehr bestehe. Dem gegenüber blieben die Regelungen für die amerikanische und französische Besatzungszone erhalten und galten als partikulares Bundesrecht fort.
Laut eines Gesetzentwurfs des Bundesrats zur „Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile“ vom 19. Mai 1988 habe sich jedoch „zumindest in Hamburg“ das Bedürfnis nach einer gesetzlichen Regelung herausgestellt, außerdem sei die Rechtsbereinigung von 1968 von „unzutreffenden Voraussetzungen“ ausgegangen. Diese gesetzliche Lücke müsse notwendigerweise von einem partikularen Bundesrecht für die Bundesländer der ehemals britischen Besatzungszone ausgefüllt werden. Der dem Gesetzentwurf beigefügten Erklärung der Bundesregierung ist zu entnehmen, dass die Bundesregierung das Anliegen des Entwurfs grundsätzlich unterstützte. Die neue gesetzliche Regelung beträfe vor allem Personen, die unter nationalsozialistischer Herrschaft für eine Tat bestraft wurden, die sie vor dem 30. Januar 1933 (Tag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler) begangen hatten. Im Gegensatz zur Auffassung des Bundesrats sah die Bundesregierung in der Außerkrafttretung der Regelungen aus der Nachkriegszeit jedoch kein Entfallen der rechtlichen Grundlagen für eine justizielle Rehabilitierung. Es könnten noch immer Aufhebungen der NS-Unrechtsurteile nach der gesetzlichen Regelung der Nachkriegszeit erfolgen.
Am 29. März 1990 kam es zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfs und zur Abstimmung über die vorgelegte Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses. Dieser ist zu entnehmen, dass der Rechtsausschuss über eine bundeseinheitliche Regelung zur Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen beraten hatte, sich eine solche Lösung jedoch aufgrund der Mehrheit der Koalitionsfraktionen nicht durchsetzen konnte. Der Ausschuss empfahl, den Gesetzentwurf des Bundesrats unverändert anzunehmen. In der Berichterstattung werden die Hintergründe der Gesetzesinitiative deutlich: Der Gesetzentwurf des Bundesrats sei auf eine Initiative der Freien und Hansestadt Hamburg zurückgegangen. In Hamburg sei das Bedürfnis entstanden, die im Zusammenhang des „Altonaer Blutsonntags“ vom 17. Juli 1932 im Jahr 1933 zum Tode Verurteilten zu rehabilitieren. Der Gesetzentwurf trage diesem Umstand Rechnung, indem er die zeitliche Beschränkung auf Sachverhalte nach dem 30. Januar 1933 aufhebe. Der Ausschuss vertrat die Meinung, dass es für die Länder in der ehemals britischen Besatzungszone generell wieder einer rechtlichen Regelung bedürfe, wie es diese auch in den Ländern der ehemaligen amerikanischen und französischen Besatzungszone gebe.
Die Beschlussempfehlung wurde in der Debatte einstimmig angenommen. Von Vertreterinnen und Vertretern der SPD, der GRÜNEN sowie der FDP wurde bedauert, dass es zu keiner bundeseinheitlichen Lösung gekommen sei.
Dokumente
-
Gesetzentwurf des Bundesrats: Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile, DS 11/2344, 19.5.1988. Quelle: Deutscher Bundestag
-
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Gesetzesentwurf des Bundesrats Drucksache 11/2322, DS 11/6722, 16.3.1990. Quelle: Deutscher Bundestag
Regelungen im Einigungsvertrag
Auch in den Einigungsvertrag flossen Regelungen hinsichtlich der Opfer des Nationalsozialismus ein.
So ist in den Vereinbarungen vom 18. September 1990 zum Einigungsvertrag unter Artikel 2 zu lesen:
„Die vertragschließenden Seiten geben ihrer Absicht Ausdruck, gemäß Beschluss der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik vom 14. April 1990 für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste der Opfer des NS-Regimes einzutreten. In der Kontinuität der Politik der Bundesrepublik Deutschland ist die Bundesregierung bereit, mit der Claims Conference Vereinbarungen über die zusätzliche Fondslösung zu treffen, um Härteleistungen an die Verfolgten vorzusehen, die nach den gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland bisher keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben.“
Die hier erklärte Absicht wurde am 9. Oktober 1992 in der sogenannten „Artikel-2-Vereinbarung“ mit der Claims Conference umgesetzt.
Die in der DDR geltende „Ehrenpensionsregelungen“ für einen auserwählten Kreis von „Kämpfern gegen den Faschismus“ und „Verfolgte des Faschismus“ sollte laut Einigungsvertrag bis zum 31. Dezember 1991 fortgelten.
Im Laufe der Jahre 1989 und 1990 wurde im Bundestag von allen Fraktionen auch den Opfern der SED-Diktatur, deren Schicksal der Öffentlichkeit nach Fall der Mauer 1989 immer bewusster wurde, und den Mauertoten gedacht. Gesetzliche Regelungen sollten jedoch erst durch das gesamtdeutsche Parlament erfolgen. Für die Übergangszeit wurde das Rehabilitationsgesetz der Volkskammer partiell übernommen.
Weitere Debatten zum Thema „Opfer“
- weiterlesen
OPFER | Debatte im Bundestag 1989 – 1990
- weiterlesen
OPFER | Debatte am Zentralen Runden Tisch 1989 – 1990
- weiterlesen
OPFER | Debatte in der Volkskammer 1990
- weiterlesen
OPFER | Debatte im Bundestag 1990 – 1992