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OPFER

Volkskammer 1990

Eine der wichtigsten Forderungen der Friedlichen Revolution war die juristische und moralische Rehabilitierung und Entschädigung von Menschen, die in der SED-Diktatur aus politischen Gründen Repressionen ausgesetzt waren. In der Volkskammer wurde sowohl über die Abschaffung des politischen Strafrechts als auch über die Verabschiedung eines umfassenden Rehabilitierungsgesetz sowie die Entschädigung von NS-Opfern diskutiert.

Die Abschaffung des politischen Strafrechtes

Die Abschaffung des politischen Strafrechtes

In 40 Jahren Diktatur waren die Betroffenen verschiedenen Formen diktatorischer Willkür ausgesetzt, die u. a. von Inhaftierung und Berufsverbot bis hin zu psychischem Terror und Repression durch Überwachung, Einschüchterung und öffentlicher Diskreditierung reichen konnten. Allein zwischen 1949 und 1989 waren unterschiedlichen Schätzungen zu Folge zwischen 150.000 bis 280.000 Menschen aus politischen Gründen in der DDR aufgrund von tatsächlich oder vermeintlich oppositionellem, widerständigem oder lediglich abweichendem Verhalten inhaftiert. Die Abschaffung des politischen Strafrechtes wurde daher bereits seit Anfang 1990 am Zentralen Runden Tisch und in der Übergangsregierung Modrow diskutiert. Es folgten jedoch erst nach den Volkskammerwahlen unter der Regierung de Maizière praktische Konsequenzen.

Kranzniederlegung für die Opfer des Stalinismus.

Opfer des Stalinismus besuchten am 28.10.1991 in Stollberg die Haftanstalt Hoheneck, wo in den 1950er Jahren bis zu 1500 Frauen inhaftiert waren. Die ehemaligen politischen Häftlinge legten Blumen und Kränze am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus nieder.

Am 14. Juni 1990 stellte der Ministerrat den Antrag auf das 6. Strafrechtsänderungsgesetz in der Volkskammer. Kurt Wünsche, Minister der Justiz, erläuterte, dass das Gesetz durch die tiefgreifende Reform sowie weitgehende Eliminierung des politischen Strafrechtes den Prozess des demokratischen Neuanfangs in der DDR sichern sollte. Vor allem sollte das Strafrecht künftig dem Schutz der politischen und persönlichen Rechte der Bürgerinnen und Bürger dienen. Die Prinzipien und Regelungen des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes würden dadurch eine unerlässliche Grundlage für die Rehabilitierung jeder Bürgerin und jeden Bürgers bilden, die wegen politisch motivierter Handlungen in der Vergangenheit strafrechtlich verfolgt wurden. Es sei zudem Voraussetzung für das in Kürze der Volkskammer vorzulegende Rehabilitierungsgesetz.

Kurt Wünsche, Minister der Justiz, stellte im Namen des Ministerrates den Antrag auf das 6. Strafrechtsänderungsgesetz am 14. Juni 1990 in der Volkskammer.
Quelle: Deutscher Bundestag.

Dokument

Der Antrag des Ministerrates erhielt aus allen Fraktionen Unterstützung. Bernhard Opitz (Liberale) kritisierte an dem Gesetzesentwurf jedoch, dass der Duktus der Unterdrückung und die antidemokratische Politik im Strafgesetzbuch auch durch Reformen nicht beseitigt werden könnten und schlug vor, statt einer Reform des DDR-Strafrechtsgesetzes das Strafrechtsgesetz der Bundesrepublik zu übernehmen. Kurt Wünsche erwiderte darauf hin, dass dies letztlich nur durch gesamtdeutsche Gremien beschlossen werden könne und daher im Moment nicht umsetzbar sei.

Gerd Poppe (Bündnis 90/Grüne) kritisierte am Gesetzesentwurf des Ministerrates, dass einige Paragraphen kaum in ihrem Wortlaut verändert worden wären und dadurch Bestandteil des politischen Strafrechtes bleiben würden. Er verwies zum Beispiel auf den Paragraphen 216, in dem es um „Störung von friedlichen Versammlungen“ gehe, der im ähnlichen Wortlaut auch schon im alten Strafgesetzbuch zu finden wäre und in der Vergangenheit immer wieder gegen friedliche Demonstranten verwendet worden wäre. Formulierungen wie „Behinderung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit“ und „Verbreitung von Unruhe in der Bevölkerung“ wären immer noch darin zu finden. Er forderte, dass diese Paragrafen neu formuliert werden müssten.

Peter-Michael Diestel redet mit Menschen auf einem Dach.

Innenminister Peter-Michael Diestel (r.) begab sich am 9. Juli 1990 auf das Dach der Untersuchungshaftanstalt Leipzig, um Gespräche mit den 49 revoltierenden Häftlingen zu führen, die sich nach dem Einsatz von Tränengas durch die Polizei dorthin zurückgezogen hatten. Die Insassen forderten eine Amnestie, verbesserte Haftbedingungen und die Überprüfung jedes einzelnen Falls.

Dem Antrag wurde schließlich mehrheitlich zugestimmt. Er wurde dem Rechtsausschuss überwiesen, der den Gesetzesentwurf überarbeitete. Am 29. Juni 1990 wurde das 6. Strafrechtsänderungsgesetz ohne Wortmeldung von der Volkskammer mehrheitlich angenommen. Mit Beschluss des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes wurden viele der einschlägigen Paragraphen abgeschafft. Darunter fielen beispielsweise die bisherigen Straftatbestände „ungesetzlicher Grenzübertritt“ (§213), die bei Fluchtversuch und Fluchtvorbereitung Anwendung gefunden hatten, oder kritische Meinungsäußerungen, die bislang als „Rowdytum“ (§215) oder „Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten“ (§249) verfolgt worden waren. Auch die von Gerd Poppe (Bündnis 90/Grüne) kritisierten Formulierungen im Paragraph §216 wurden nochmals umformuliert bzw. verändert. Der Paragraph bezog sich nun nicht mehr auf „Störung von friedlichen Versammlungen“, sondern auf Fälle von Landfriedensbruch.

Dokument

Änderungen und Amnestien im Strafvollzug

Straferlass: Änderungen und Amnestien im Strafvollzug

Obwohl mit dem 6. Strafrechtsänderungsgesetz die entsprechende rechtliche Grundlage geschaffen wurde, warteten viele Häftlinge vergeblich auf eine Aufhebung ihrer Strafen. Im Innen- und Justizministerium wurden die Forderungen der Gefangenen zurückhaltend aufgenommen und die Überprüfungen verschleppt. Grundsätzlich vertraten die Minister die Position, dass alle nach den Gnadenerlassen noch einsitzenden Gefangenen sich zu Recht in Haft befanden. Dabei blieb allerdings unberücksichtigt, dass viele von ihnen aus ideologischen Gründen oftmals zu überzogenen Haftstrafen verurteilt worden waren. Die Gefangenen fürchteten, dass sich ihre Situation auch nach der deutschen Einheit nicht bessern würde. Deshalb kam es im September 1990 landesweit zu Häftlingsrevolten. Mit spektakulären Dachbesetzungen machten die Häftlinge auf ihre Probleme aufmerksam. Nur zwei Wochen vor der deutschen Einheit erarbeitete eine Arbeitsgruppe der Volkskammer eine Gesetzesvorlage, die einen weiteren Gnadenakt vorsah.

  • In der Untersuchungshaftanstalt in Dresden verfolgten die Insassen am 28. September 1990 die Radioübertragung der 37. Volkskammersitzung, bei der das Gesetz über den teilweisen Straferlass beschlossen wurde.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0928-029/Matthias Hiekel.

  • Ähnlich wie hier im Juli 1990 machten die Häftlinge auch im September 1990 mit spektakulären Dachbesetzungen auf ihre Probleme aufmerksam.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0709-015/Wolfgang Kluge.

Auf Antrag des Präsidiums wurde das „Gesetz zum teilweisen Straferlass“ auf der letzten regulären Arbeitssitzung der Volkskammer am 28. September 1990 debattiert und beschlossen.

Die wichtigsten Eckpunkte des Gesetzes waren:

  • Generelle Ermäßigung aller Freiheitsstrafen um ein Drittel der Zeit, die vor dem 1. Juli 1990 verhängt wurden (außer bei besonders schweren Delikten wie Mord);
  • Recht auf Prüfung aller Urteile, die vor dem 1. Juli 1990 ausgesprochen wurden, durch einen unabhängigen Ausschuss.

Mit diesem Gesetz sollte keine allgemeine Amnestie, sondern Gerechtigkeit hergestellt werden, begründete der Rechtsausschuss den Gesetzesentwurf. Die Ursache für diesen Gesetzentwurf sei die kritische Situation in den Haftanstalten, die außergewöhnliche Maßnahmen erforderte. Ermittlungen gegen die einsitzenden Häftlinge seien teilweise von der Staatssicherheit durchgeführt worden. Häftlinge seien zudem sowohl physischer als auch psychischer Gewalt ausgesetzt. Das Gesetz wurde schließlich bei zwei Gegenstimmen und einigen Enthaltungen in zweiter Lesung angenommen.

  • „Ich weiß auch, daß die Entscheidung, die die Volkskammer jetzt getroffen hat, nicht den Erwartungen der Gefangenen entspricht, die auf den Dächern streiken bzw. die sich im Hungerstreik befunden haben. Ich möchte deshalb die Gelegenheit benutzen, ganz eindringlich an die Gefangenen zu appellieren, diese Regelung, die die Volkskammer jetzt in ihrem Interesse gefunden hat, zu akzeptieren, ihren Hungerstreik abzubrechen, von den Dächern herunterzukommen. Es ist die Regelung, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen möglich ist.“

    Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne),
    Volkskammer 10/37, 28.9.1990, S. 1846-1847.

Uwe-Jens Heuer (PDS) stellte im Namen des Rechtsausschusses am 28. September 1990 das „Gesetz zum teilweisen Straferlass“ in der Volkskammer vor.
Quelle: Deutscher Bundestag.

Dokument

Das Rehabilitierungsgesetz der Regierung de Maizière

Das Rehabilitierungsgesetz der Regierung de Maizière

Die Übergangsregierung Modrow diskutierte am 18. Januar 1990 über einen ersten Entwurf eines Rehabilitierungsgesetzes, das jedoch lediglich eine strafrechtliche Rehabilitierung vorsah und dessen Erlass letztlich auf die Zeit nach den Volkskammerwahlen verschoben wurde. Der neugewählte Ministerpräsident Lothar de Maizière bezeichnete dann bereits in seiner Regierungserklärung vom 19. April 1990 „die Rehabilitierung von Bürgern, die aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt und arbeitsrechtlich benachteiligt wurden oder andere Nachteile zur Unrecht erlitten“, als „ein wesentliches Anliegen neuer Rechtspolitik“. Unter den Abgeordneten der letzten Volkskammer herrschte zudem ein breiter Konsens in Bezug auf die Forderungen nach einer umfassenden und großzügigen Wiedergutmachung. Zahlreiche ehemalige politische Häftlinge und Opferverbände aus Ost und West wandten sich an den Ministerpräsidenten bzw. den Justizminister und beteiligten sich auf diese Weise am Gesetzgebungsprozess. Die Ausarbeitung und Verabschiedung des Rehabilitierungsgesetzes erwies sich jedoch als kompliziert.

Erst am 15. Juni 1990 diskutierte der Ministerrat dann einen neuen Entwurf eines Rehabilitierungsgesetzes. Hierin waren bereits die wesentlichen Linien des später verabschiedeten Gesetzes enthalten. Dieser Entwurf wurde noch zweimal im Ministerrat überarbeitet, bevor der Gesetzesentwurf dann bereits im Juli 1990 an die Volkskammer weitergeleitet wurde.

Dokument

Neu an dem Gesetzesentwurf der Regierung de Maizière war, dass er neben strafrechtlicher auch die verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierung von SED-Verfolgten vorsah. Mit dieser breiten Auslegung entsprach der Entwurf den vielen Tausend Eingaben von Betroffenen, die diese seit Herbst 1989 an verschiedene staatliche Stellen geschickt hatten. Insbesondere beklagten viele Menschen eine berufliche Schädigung, für die es bislang keinen Ausgleich gab. Menschen, die berufliche Repressionen erlitten hatten, sollten gemäß des Entwurfes nun das Recht haben, an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren – eine Vorschrift, die angesichts der Massenentlassungen ab 1990 jedoch unrealistisch war. Wenn der alte Arbeitgeber keine Stelle mehr anbieten konnte, sollten beruflich Rehabilitierte bevorzugt von den Arbeitsämtern vermittelt werden. Soziale Ausgleichsleistungen standen den Opfern dieser Verfolgung zu, soweit ihnen „durch betriebliche Entscheidungen erhebliche Einkommensverluste entstanden sind“. Die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung umfasste die „Verletzung oder unzulässige Einschränkung verfassungsmäßig garantierter Grundrechte durch Verwaltungsakte zur Durchsetzung politischer Ziele“. Darunter fielen Eigentumsentzug, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, Zwangsaussiedlung oder die zwangsweise Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Auch strafrechtlich Verfolgte sollten rehabilitiert werden. Insbesondere die Verurteilungen durch die politische DDR-Strafgesetzgebung, von denen viele Tatbestände seit der Verabschiedung des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes nun nicht mehr gültig waren, sollten in den Mittelpunkt strafrechtlicher Rehabilitierung rücken.

Demonstranten halten Banner vom Bund stalinistischer Verfolgter hoch.

Am 18.8.1990 forderten rund 100 Demonstranten am Alexanderplatz Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SED-Diktatur. Die Demonstranten verlangten unter anderem die Absetzung von Justizminister Kurt Wünsche.

Zudem erhielten die Betroffenen laut § 2 des Gesetzesentwurfes umfassende Aussichten auf eine materielle Entschädigung: „Ferner begründet die Rehabilitierung nach Maßgabe dieses Gesetzes einen Anspruch der Betroffenen oder des Betroffenen auf Rückerstattung ihm entzogener Vermögenswerte und auf soziale Ausgleichsleistungen für die ihm durch Strafverfolgung, Ingewahrsamnahme, Verwaltungsakte von Behörden oder Entscheidungen von Betrieben entstandenen gesundheitlichen, materiellen oder anderen Nachteile sowie weitere in diesem Gesetz festgelegte Ansprüche.“

Sowohl der Ausgleich von strafrechtlichen als auch von beruflichen oder verwaltungsrechtlichen Nachteilen konnte laut Entwurf innerhalb von zwei Jahren bei den Rehabilitierungsgremien der zuständigen Gerichte oder Behörden beantragt werden. Den Gremien durfte niemand angehören, der bis 1989 an der Unrechtsmaßnahme beteiligt war. Zudem galt das Prinzip, dass eine Rehabilitierung auch dann möglich war, wenn die Maßnahme auf damals geltendem Recht beruht hatte oder zusätzlich von einem Gericht bestätigt worden war. Mit dieser Regelung bekräftigte die Regierung de Maizière, dass das geltende Recht der Diktatur ein Unrecht gewesen war.

Volkskammerdebatte zum Rehabilitierungsgesetz

Volkskammerdebatte zum Rehabilitierungsgesetz

Am 20. Juli 1990 brachte der Ministerrat den ersten Entwurf des Rehabilitierungsgesetzes in die Volkskammer ein. Reinhard Nissel, Staatssekretär im Ministerium für Justiz, berichtete, dass in der Gesetzgebungskommission des Ministeriums der Justiz u. a. Beauftragte des Zentralen Runden Tisches und Vertreterinnen und Vertreter der Verbände und Vereinigungen der politisch Verfolgten an der Erarbeitung des Gesetzesentwurfes aktiv mitgewirkt hätten. Ziel des Gesetzes sei es, „Personen vom Makel strafrechtlicher Verurteilung oder anderer Diskriminierungen zu befreien.“ Es dürfe niemals vergessen werden, dass zahlreiche Betroffene durch ungerechtfertigte Inhaftierungen wertvolle Lebensjahre verloren und schwere Haftbedingungen zu ertragen hätten. Nicht selten hätten diese Repressionen zu teilweise erheblichen Gesundheitsschäden geführt. Die Schaffung des Gesetzes erfolge daher aus rechtspolitischen, juristischen, humanitären und sozialen Gründen.

Reinhard Nissel, Staatssekretär im Ministerium der Justiz, stellte den ersten Entwurf des Rehabilitierungsgesetzes am 20. Juli 1990 in der Volkskammer vor.
Quelle: Deutscher Bundestag.

Dokument

  • „Zunächst möchte ich der Hoffnung Ausdruck geben […], daß die Verabschiedung eines Rehabilitierungsgesetzes als der Höhepunkt der Tätigkeit dieses Hohen Hauses in die deutsche Geschichte eingehen möge.“

    Hansjoachim Walther (DSU),
    Volkskammer 10/26, 20.7.1990, S. 1143.
  • „Dieser Gesetzentwurf ist ausgearbeitet worden, um das von dem bürokratisch-administrativen, stalinistischen System während der vergangenen mehr als vierzig Jahre durch die Verletzung verfassungsmäßiger Grund- und Menschenrechte der Bürger auf verschiedenen Gebieten begangenen Unrechts und seine verschiedenartigen Auswirkungen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu tilgen.“

    Reinhard Nissel (Staatssekretär, Ministerium für Justiz),
    Volkskammer 10/26, 20.7.1990, S. 1134.

Für Verwirrung bei den Abgeordneten sorgte der Passus des Entwurfes, der festlegen sollte, dass für gerichtliche Entscheidungen zwischen 1945 und 1949 nur Opfer deutscher Gerichte unter das Gesetz fallen sollten. Die meisten Opfer waren jedoch in dieser Zeit von der Besatzungsjustiz der Sowjetunion betroffen. Die Parlamentarier der Volkskammer waren sich daher einig, dass die Rehabilitierung auch für die Opfer sowjetischer Maßnahmen gelten sollte. Staatssekretär Reinhard Nissel begründete diese Formulierung damit, dass „völkerrechtliche und staatsrechtliche Überlegungen“ im Vergleich zu früheren Entwürfen zu einer Meinungsänderung geführt hätten. Tatsächlich war es eine Position der westdeutschen Bundesregierung, die sich hinter den Kulissen durchgesetzt hatte. Die Bundesregierung wollte die Zahl der Anspruchsberechtigen geringhalten und vertrat die Auffassung, dass die Entscheidungen einer fremden Nation, in diesem Fall die Sowjetunion, nicht im Nachhinein von deutschen Stellen aufgehoben und rehabilitiert werden könnten.

  • Hansjoachim Walther (DSU) appellierte an die Abgeordenten am 20. Juli 1990 in der Debatte um das Rehabilitierungsgesetz, dass die Rehabilitierung auch für die Opfer sowjetischer Maßnahmen gelten sollte.
    Quelle: Deutscher Bundestag.

  • Else Ackermann (CDU/DA) machte in der Debatte um das Rehabilitierungsgesetz am 20. Juli 1990 in der Volkskammer auf die verschiedenen Formen des Unrechts, von denen die Opfer betroffen waren, aufmerksam.
    Quelle: Deutscher Bundestag.

  • Gunter Weißgerber (SPD) kritisierte am 20. Juli 1990 in der Debatte um das Rehabilitierungsgesetz u. a., dass die NS-Opfer keine Berücksichtigung im Gesetz fänden.
    Quelle: Deutscher Bundestag.

Insgesamt wurde der Gesetzesentwurf in seiner Breite begrüßt, auch wenn es noch weitere Kritikpunkte aus verschiedenen Lagern der Volkskammer gab. Die Fraktion Bündnis 90/Grüne forderte beispielsweise, dass Gremien für Betroffene eingerichtet werden sollten, die diese in Rehabilitierungsverfahren unterstützen, da viele Betroffene Schwierigkeiten hätten, überhaupt „Beweismittel“ für das erlebte Unrecht zu erbringen. Es sollten daher eine Stiftung oder mehrere Stiftungen eingerichtet werden, die sich über die staatlichen Maßnahmen hinaus mit der Rehabilitierung von Opfern der SED-Diktatur befassen. Außerdem müssten auch Berufsverbote in der Rehabilitierung berücksichtigt werden. Hansjoachim Walther von der DSU hob hervor, dass das Gesetz von der Volkskammer geschaffen werden müsse, da in der Bundesrepublik nach 1945 nichts Vergleichbares geschehen sei. Zusätzlich regte er an, eine Erfassungsstelle für alle politischen Verbrechen der letzten 45 Jahre einzurichten. Gunter Weißgerber (SPD) kritisierte an dem Gesetz, dass die NS-Opfer, die auch schon vom kommunistischen System nicht als Opfer anerkannt worden waren, keine Berücksichtigung fänden. Auch Else Ackermann (CDU/DA) mahnte, die NS-Verbrechen nicht zu vergessen.

Der Entwurf wurde schließlich mehrheitlich in den Rechts-, Innen- und Finanzausschuss sowie in den Ausschuss Deutsche Einheit, Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie den Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des MfS überwiesen.

Das DDR-Rechtsmagazin „Alles, was Recht ist“ berichtete am 23.08.1990 über die Problematik der politischen Strafgefangenen sowie über die Schwierigkeiten bei der Erarbeitung des Rehabilitierungsgesetzes.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

In den Ausschüssen wurde der Entwurf dann vier Wochen weiter bearbeitet. Die 2. Lesung des Rehabilitationsgesetzes wurde dann erst nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages für Anfang September anberaumt. Allerdings wurde in der Volkskammer am 24. August 1990 im Zusammenhang mit der Debatte um das „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS“ auch über die Rehabilitierungsfrage diskutiert. Im Gesetz zum Umgang mit den Akten des MfS sollte die Einsicht in die Akten auch für Wiedergutmachungs- und Rehabilitierungszwecke geregelt werden. Ziel dieses Gesetzes sollte es u. a. sein, „den Zugriff auf die personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS für die Rehabilitierung zu ermöglichen.“ Ralf Geisthardt (CDU/DA) machte in dieser Debatte dann auch auf die Situation der Opfer aufmerksam. Er erläuterte, dass es hunderttausende Bürgerinnen und Bürger dieses Landes gebe, die direkt und indirekt geschädigt worden seien. Er habe stapelweise Briefe von Bürgerinnen und Bürgern mit der Bitte um Rehabilitierung erhalten. Es bestehe daher ein akuter Handlungsbedarf für das Rehabilitierungsgesetz, resümierte er.

Rainer Eppelmann erläutert, was die Volkskammerabgeordneten mit der Rehabilitierung der Opfer erreichen wollten und warum bis heute die Rehabilitierung von Opfern mit Schwierigkeiten verbunden ist.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022.

Verabschiedung des Rehabilitierungsgesetzes

Verabschiedung des Rehabilitierungs-gesetzes

Als bereits am 30. August 1990 deutlich wurde, dass das „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS“ vom 24. August 1990 nicht in den Einigungsvertrag aufgenommen werden sollte, befürchteten viele Abgeordnete, dass es dem noch zu beschließenden Rehabilitierungsgesetz ähnlich ergehen könnte. Innenminister Diestel versicherte in dieser Sitzung noch, dass er sich dafür einsetzen werde, dass die Rehabilitierungsbedürfnisse der DDR-Bürgerinnen und -Bürger Berücksichtigung fänden. Auch die Opferverbände drängten darauf, dass das in der Volkskammer vorbereitete Rehabilitierungsgesetz auch nach der deutschen Einheit Gültigkeit behalten sollte, und in den Einigungsvertrag aufgenommen werden sollte. Die Bundesregierung lehnte dieses Ansinnen mit Blick auf die nur schwer abzuschätzenden Kosten jedoch ab. Die größte Unklarheit und Herausforderung bei der Erarbeitung des Rehabilitierungsgesetzes war die Ungewissheit über den finanziellen Rahmen, in dem sich die Entschädigungsleistungen bewegen würden und wie die Finanzierung dieser Entschädigungen bewältigt werden sollte. Bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag verständigten sich beide Vertragsparteien darauf, zunächst nur die grundsätzliche Entschädigungsverpflichtung festzuschreiben. Deren konkrete Ausgestaltung wurde jedoch offengelassen. So hieß es in Artikel 17 des Einigungsvertrages:

„Die Vertragsparteien bekräftigen ihre Absicht, daß unverzüglich eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen wird, daß alle Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind. Die Rehabilitierung dieser Opfer des SED-Unrechts-Regimes ist mit einer angemessenen Entschädigungsregelung zu verbinden.“

  • „Die Wiedergutmachung des Unrechts, das in der Vergangenheit unzähligen Menschen in diesem Land zugefügt wurde, ist eine Aufgabe, die wohl uns allen ohne Ausnahme am Herzen liegt. Das Rehabilitierungsgesetz ist deshalb, so meine ich, eines der wichtigsten Gesetze, die dieses Haus noch zu verabschieden hat.“

    Lothar Anys (DSU),
    Volkskammer 10/34, 6.9.1990, S. 1599.
  • „Ich glaube nämlich nicht, daß in der Bundesrepublik bei allen Politikern das nötige Fingerspitzengefühl vorhanden ist oder vorhanden sein kann, mit dieser diffizilen Materie umzugehen. Beide deutschen Rechtsausschüsse haben gestern im Bundestag getagt, und diesen Eindruck konnten wir durchaus gewinnen: Wir DDR-Bürger werden sehr, sehr aufzupassen haben im Deutschen Bundestag, damit unsere Vergangenheit so bewältigt wird, wie wir es uns vorstellen.“

    Luise Morgenstern (SPD),
    Volkskammer 10/34, 6.9.1990, S. 1601.
  • „Ich glaube, eine Gesellschaft kann nicht neu beginnen, und für den Aufbau der Demokratie in unserem Land sind wir verantwortlich, auch wenn die Wiedervereinigung kommt, können wir nicht neu beginnen ohne ein solches Gesetz, ohne daß praktisch den Leuten, die diesen Idealen der Rechtsstaatlichkeit gegenüber und der Freiheit und der Wahrheit standhaft geblieben waren und dafür schwere Schäden erlitten haben, Recht zuteil wird. Diese Leute müssen rehabilitiert werden. Da gibt es gar kein Ausweichen.“

    Bernhard Opitz (F.D.P),
    Volkskammer 10/34, 6.9.1990, S. 1599.

Die 2. Lesung des Rehabilitationsgesetzes wurde am 6. September 1990 nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 31. August 1990 durch die DDR-Regierung und die Bundesregierung vor Zustimmung der beiden deutschen Parlamente in der Volkskammer anberaumt. Neben dem Gesetz zum Umgang mit den MfS-Akten war es dasjenige Projekt, dass die Volkskammer unbedingt noch in eigener Regie verabschieden und durch Nachverhandlungen in den Einigungsvertrag übernehmen wollte. Else Ackermann (CDU/DA) stellte im Namen des Rechtsausschusses den überarbeiteten Gesetzesentwurf vor, in dem nun auch Personen, die von alliierten Besatzungsmächten in Gewahrsam genommen worden waren, sowie sogenannte Republikflucht im Vergleich zum ersten Entwurf ausdrücklich Berücksichtigung fanden. Es müsse den Opfern eine Wiedergutmachung im Rahmen politisch-moralischer, juristischer und materieller Möglichkeiten angeboten werden, so Else Ackermann. Personen sollten in erster Linie vom Makel strafrechtlicher Verurteilung oder anderer Diskriminierungen befreit werden, die in der Vergangenheit durch Verletzung der in der Verfassung garantierten Grund- und Menschenrechte verfolgt und benachteiligt wurden, wie es auch in der Präambel des Gesetzes heiße.

  • Else Ackermann (CDU/DA) brachte im Namen des Rechtsausschusses am 6. September 1990 das Rehabilitierungsgesetz in zweiter Lesung in Volkskammer ein.
    Quelle: Deutscher Bundestag.

  • Bernhardt Opitz (F.D.P.) verdeutlichte in seinem Redebeitrag am 6. September 1990 u. a. noch einmal die Wichtigkeit der beruflichen Rehabilitierung.
    Quelle: Deutscher Bundestag.

  • Bernd Reichelt (Bündnis 90/Grüne) forderte in seinem Redebeitrag am 6. September 1990 die Regierung de Maizière auf mit der Bundesrepublik über die Regelungen zum Rehabilitierungsgesetz im Einigungsvertrag nachzuverhandeln.
    Quelle: Deutscher Bundestag.

Dokument

In der anschließenden Debatte kommentierte Bernhard Opitz (F.D.P.), dass das Gesetz zwar sehr spät komme, aber notwendig sei. Um neu in diesem Land anfangen zu können, gehe es nicht ohne ein solches Gesetz. Bernd Reichelt (Bündnis 90/Grüne) verdeutlichte in seinem Redebeitrag, dass die Rehabilitierung nicht nur Wiedergutmachung sei, sondern Teil der Aufarbeitung der DDR-Geschichte, die dringend notwendig wäre und so schnell wie möglich erfolgen müsse. Daher dulde dieses Gesetz keinen Verzug. Er betonte, dass dieses Gesetz nicht nur eine strafrechtliche, sondern auch eine verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierung vorsehe. Der Artikel 17 des Einigungsvertrages würde nur auf strafrechtliche Rehabilitierungen und Gerichtsentscheidungen abzielen. Hier forderte er die Regierung de Maizière auf, mit der Bundesregierung nachzuverhandeln. Auch die SPD-Fraktion stimmte dem Rehabilitierungsgesetz zu mit der dringlichen Aufforderung an die Regierung, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz auch nach dem 3. Oktober im vollen Umfang wirksam werden könne. Das Rehabilitierungsgesetz wurde schließlich in derselben Sitzung bei einer Gegenstimme und fünf Enthaltungen mit überwältigender Mehrheit verabschiedet. Ergänzt wurde das Gesetz durch folgenden Maßgabe, die mit einer Enthaltung beschlossen wurde:

„Die Regierung der DDR wird beauftragt, Nachverhandlungen zum Einigungsvertrag zu führen mit dem Ziel, das Rehabilitierungsgesetz als weitergeltendes Recht mit zu verankern.“

Das Gesetz sollte unbedingt in den Einigungsvertrag übernommen werden.

  • „Wir haben unsere Vergangenheit aufzuarbeiten – wir, die wir hier lebten, auf welcher Seite auch immer. Und damit ist die DSU auch für die Aufnahme des Gesetzes vom 24. August in den Einigungsvertrag. In diesem Zusammenhang steht […] auch die Frage der Rehabilitierung der Opfer.“

    Hansjoachim Walther (DSU),
    Volkskammer 10/35, 13.9.1990, S. 1642.
  • „Wir erwarten weiterhin, daß das vorige Woche verabschiedete Rehabilitierungsgesetz in das Vertragswerk aufgenommen werden wird.“

    Wolfgang Thierse (SPD),
    Volkskammer 10/35, 13.9.1990, S. 1647.
  • „Wir fordern, daß zumindest das Rehabilitierungsgesetz und das Gesetz über die Stasi-Akten, die ja beide miteinander zusammenhängen, aufgenommen werden.“

    Werner Schulz (Bündnis 90/Grüne),
    Volkskammer 10/35, 13.9.1990, S. 1659.
Nachverhandlungen zum Einigungsvertrag

Nachverhandlungen zum Einigungsvertrag

Bei der deutschen Bundesregierung rief das weitreichende Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer, das sowohl die strafrechtliche als auch verwaltungsrechtliche sowie berufliche Rehabilitierung und entsprechende Ausgleichszahlungen vorsah, Bedenken hervor. Sie wollte den Anwendungsbereich des Gesetzes auf den strafrechtlichen Teil einschränken, um unschätzbare Kosten für die Rehabilitierung zu verringern. Im Ausschuss Deutsche Einheit wurde schließlich ein Kompromiss erreicht. Neben dem bereits vorhandenen Artikel 17, der die grundsätzliche Entschädigungsverpflichtung im Einigungsvertrag festschrieb, hatten sich Delegationen der DDR und der Bundesrepublik auf eine partielle Übernahme des Rehabilitierungsgesetzes in Kapitel III unter Ziffer 6 der zusätzlichen Vereinbarung zum Einigungsvertrag geeinigt. Die Passagen der beruflichen und verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung wurden jedoch ausdrücklich ausgenommen. Rehabilitiert werden konnten demnach diejenigen Personen, die strafrechtlich verfolgt worden waren, obwohl sie durch die DDR-Verfassung garantierte Grund- und Menschenrechte wahrgenommen hatten. Damit verbunden war ein Anspruch auf Entschädigung und die Berücksichtigung der Haftzeiten in der Rentenversicherung. Die Parlamentarier im Bundestag zeigten sich dabei weitaus kompromissbereiter als die Bundesregierung. Viele Bundestagsabgeordnete über Fraktionsgrenzen hinweg unterstützten eine Erweiterungsmöglichkeit nach dem Vorbild des Volkskammergesetzes. Auf Widerspruch stieß, dass Opfer sowjetischer Gerichte nicht unter das Gesetz fielen.

Das Magazin „Aktuell“ berichtete am 16. März 1991 über die Probleme und Herausforderungen bei der Rehabilitierung der Opfer.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

Am 20. September 1990 verabschiedeten die Abgeordneten der Volkskammer den überarbeiteten Einigungsvertrag. Viele Abgeordnete zeigten ihre Kritik an dem dort festgeschriebenen Kompromiss im Hinblick auf die Regelungen zum Gesetz zur Sicherung der Stasi-Akten und dem Rehabilitierungsgesetz. Jürgen Schwarz (DSU) beurteilte den Einigungsvertrag insgesamt als ein gutes Gesetz, das in die Geschichte eingehen werde, auch wenn Festlegungen für die Rehabilitierung der vielen Opfer des Stalinismus und der SED-Herrschaft fehlten. Auch Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne) kritisierte, dass das Rehabilitierungsgesetz nicht vollständig in den Einigungsvertrag aufgenommen wurde. Joachim Richter (SPD) resümierte, dass damit Bürgerinnen und Bürger, die durch willkürliche Verwaltungsakte oder willkürliche Entscheidungen von Betrieben der alten DDR Nachteile erlitten hatten, nun nicht rehabilitiert werden könnten.

Auch wenn diese ersten Bestimmungen im Einigungsvertrag nur strafrechtliche Rehabilitierungen berücksichtigten, bildeten sie die Grundlage für die später im Bundestag verabschiedeten SED-Unrechtsbereinigungsgesetze, die seitdem für die Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer der SED-Diktatur gelten. Die Grundsätze des umstrittenen dreigliedrigen DDR-Rehabilitierungsgesetzes wurden letztendlich in der vereinten Bundesrepublik umgesetzt – damit war eine strafrechtliche, berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung möglich, auch wenn die Bestimmungen weitaus enger gehalten waren, als im ursprünglichen Entwurf der Volkskammer vorgesehen.

  • „Als geradezu unmoralisch aber empfinde ich es, daß viele, die in der Vergangenheit durch die SED und Helfershelfer verfolgt und vielfach benachteiligt waren, nun keinen Anspruch auf eine Entschädigung haben. Die nur fragmentarische Berücksichtigung unseres Rehabilitierungsgesetzes im Einigungsvertrag ist eine Schande!“

    Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne),
    Volkskammer 10/36, 20.9.1990, S. 1705.

Ulrike Poppe, ehemalige Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, erklärt, welche Schwierigkeiten Betroffene bei der Beantragung der Rehabilitierung haben und wo es noch heute Verbesserungsbedarf gibt.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022.

Entschädigungen für das NS-Unrecht in der DDR

Entschädigungen für das NS-Unrecht in der DDR

In der DDR gab es einen kleinen Kreis anerkannter Opfer des Nationalsozialismus, die eine privilegierte Sozialfürsorge in Form einer „Ehrenpension“ erhielten. Die NS-Verfolgten hatten jedoch in der DDR keine Ansprüche auf materielle Entschädigungsleistungen als Ausgleich für das erlittene Unrecht, die sie gegebenenfalls mit Hilfe einer Klage vor Gericht hätten durchsetzen können. In ihrem Selbstverständnis definierte sich die DDR als antifaschistischer Staat und wies damit jede Verantwortung für die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen von sich. Die Leistungen an die NS-Opfer wurden in Abhängigkeit vom Willen der zuständigen staatlichen Institutionen gewährt. Bei politisch missliebigem Verhalten konnten sie jederzeit entzogen werden. Materielle Leistung bemaßen sich nur sekundär nach den erlittenen Verfolgungsschäden.

1989/90 bezogen in der DDR ca. 10.000 Personen die „Ehrenpension“. Diese „Ehrenpension“ war strikt auf die Bewohner der DDR beschränkt. Diejenigen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht nach Deutschland und nicht in die DDR zurückkehren wollten, blieben von der Entschädigung der DDR ausgenommen. Diejenigen, die die DDR verließen, verloren ihren Anspruch. Die DDR sah sich nicht als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches. Somit lehnte sie materielle Leistungen für im Ausland lebende NS-Opfer ab und verweigerte auch die moralische Mitverantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands.

Gefängniszelle.

In der heutigen Gedenkstätte Münchner Platz und damaligen Gefängniszelle in Dresden wurden in Zeiten des Nationalsozialismus, der Sowjetischen Besatzungszone und zu Beginn der DDR Menschen hingerichtet.

Seit 1950 konnten sich Betroffene, wenn sie ihren Wohnsitz in der DDR hatten, als „Verfolgte des Naziregimes“ (VdN) anerkennen lassen. Anerkennungswürdig waren sowohl „Kämpfer gegen den Faschismus“ als auch „Opfer des Faschismus“. Unter „Kämpfer gegen den Faschismus“ verstand die SED-Führung Angehörige der „antifaschistischen Parteien“ sowie diejenigen, die am organisierten Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt waren. Die Anerkennung als VdN war fest an den Nachweis der politischen Haltung während des Nationalsozialismus und in der DDR-Gesellschaft gebunden. Unter „Opfer des Faschismus“ waren die aus rassischen, politischen und religiösen Gründen Verfolgten gemeint. So mussten jüdische Verfolgte beispielsweise eine Inhaftierung, ein Leben in Illegalität oder aber die Emigration nachweisen. Auch die Gruppe der Sinti und Roma sowie aus politischen oder rassischen Gründen Zwangssterilisierte hatten die Möglichkeit der Anerkennung.

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1965 wurde die Ehrenpensionsverordnung eingeführt. Für den Erhalt der „Ehrenpension“ war die Anerkennung als VdN die einzige Voraussetzung. Die Ehrenpensionsverordnung führte nun offiziell die Terminologie „Kämpfer gegen den Faschismus“ und „Verfolgte des Faschismus“ ein. Diese Unterscheidung hatte zum ersten Mal auch erhebliche finanzielle Auswirkungen. Mit dem Erreichen des Pensionsalters, das für alle Verfolgten um fünf Jahre abgesenkt wurde, erhielten die „Kämpfer gegen den Faschismus“ seit dem 30.12.1988 eine monatliche Rente von 1.700 Mark und die „Verfolgten des Faschismus“ 1.400 Mark. Das waren für DDR-Verhältnisse großzügige Renten. Die Ehrenpensionen wurden ab 1971 zudem unabhängig von anderen Renten ausgezahlt. Als „Kämpfer gegen den Faschismus“ galt nur, wer Träger der 1958 eingeführten Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“ war. Die Medaille konnte an anerkannte Verfolgte jedoch nur und ausschließlich verliehen werden, wenn diese sich während des Nationalsozialismus aktiv am „antifaschistischen Kampf beteiligt“ und später in der DDR „ihre antifaschistische Gesinnung“ beibehalten hatten. Dies schränkte den Personenkreis stark auf die kommunistischen Widerstandskämpfer ein und machte den Erhalt der Pension vor allem abhängig von einer politischen Entscheidung.

Lag wegen schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigungen schon vor dem Erreichen des Rentenalters eine Minderung der Erwerbsfähigkeit vor, wurde eine Teilpension gezahlt, die sich nach dem Grad der gesundheitlichen Beeinträchtigung bemaß. Dabei kam es nicht darauf an, ob und inwieweit die gesundheitliche Beeinträchtigung auf eine nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme zurückzuführen war. Darüber hinaus wurden die VdN auch auf vielfältige andere Weise innerhalb der DDR privilegiert, beispielsweise durch eine bessere medizinische Versorgung, unentgeltliche Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, Bevorzugung bei der Wohnraumbeschaffung sowie Chancen auf Stipendien und Zuschüsse für die Kinder der Betroffenen.

  • Der jüdische Komponist André Asriel, zusammen mit seinem Sohn, wurde am 5. September 1958 mit der Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“ ausgezeichnet.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-58223-0001/Rudolf Hesse.

  • In einer Feierstunde im Haus der Ministerien in Berlin wurde am 3. September 1958 erstmalig die auf Vorschlag des Politbüros des ZK der SED gestiftete „Medaille für Kämpfer gegen den Faschismus “ vom Ministerrat verliehen. Dr. Robert Havemann (rechts) empfing Urkunde und Medaille aus der Hand Hermann Materns und Glückwünsche von Heinrich Rau (links).
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-58135-0003 / o. Ang.

Zum 31. Dezember 1975 wurde durch den Ministerrat der DDR die Anerkennungsmöglichkeit als VdN beendet. Damit konnten keine neuen „Ehrenpensionen“ mehr beantragt werden. Dies wurde in der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik, in der die Schließung des „Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ (BEG), welches die Entschädigungsleistungen für NS-Opfer im In- und Ausland in der Bundesrepublik regelte, nicht kontrovers diskutiert.

Mit der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 wurde der Umgang mit den NS-Opfern in der DDR neu diskutiert. Der Ministerrat unter der Übergangsregierung Modrow setzte die Anerkennungsmöglichkeit als VdN am 1. März 1990 wieder in Kraft. Neue Anträge auf Anerkennung als VdN waren nun theoretisch wieder möglich, allerdings blieb das ein Vorgang ohne praktische Relevanz, da sich während der Regierung Modrow keine Behörde mehr bereitfand, Neuanträge auf Zahlung einer „Ehrenpension“ anzunehmen.

Nach den Wahlen im März 1990 bekannte sich die letzte und erste frei gewählte Volkskammer am 12. April 1990 in ihrem ersten inhaltlichen Beschluss im Namen aller Bürgerinnen und Bürger der DDR zur Mitverantwortung an der Shoah. In derselben Erklärung setzten sich die Abgeordneten für eine gerechte Entschädigung der materiellen Verluste der Opfer des NS-Regimes ein: „Wir erklären, alles uns mögliche zur Heilung der seelischen und körperlichen Leiden der Überlebenden beitragen zu wollen und für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste einzutreten.“

Die Volkskammer machte damit auch auf die Betroffenen der NS-Verfolgung aufmerksam, die bisher aufgrund ihrer politischen Haltung in der DDR keine Chance auf Entschädigung erhalten hatten. Auch in der Volkskammerdebatte um das Rehabilitierungsgesetz zum Umgang mit den SED-Opfern am 20. Juli 1990 kritisierte beispielsweise Gunter Weißgerber (SPD) an dem Gesetz, dass die NS-Opfer, die auch schon vom kommunistischen System nicht als Opfer anerkannt wurden, nun erneut keine Berücksichtigung fänden.

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Regelungen im Einigungsvertrag

Regelungen zur Entschädigung von NS-Opfern im Einigungsvertrag

Auch in den Verhandlungen zum Einigungsvertrag wurden die Entschädigungsleistungen an die Opfer des Nationalsozialismus diskutiert. In der Bundesrepublik erhielt eine begrenzte Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus seit den 1950er Jahren im In- und Ausland Leistungen aufgrund des „Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ (BEG). Daneben kamen im Laufe der Jahrzehnte diverse innerstaatliche Sonderregelungen für im BEG nicht berücksichtigte Opfergruppen sowie zwischenstaatliche Verträge zur Entschädigung ausländischer Verfolgter hinzu. Es stand nun die Frage im Raum, die Entschädigung der NS-Opfer in der Bundesrepublik und DDR anzugleichen. Letztendlich fiel jedoch die Entscheidung gegen eine Vereinheitlichung, was dazu führte, dass auch nach der deutschen Einheit beide Vorgehensweisen weiter existierten.

Dementsprechend wurde im Einigungsvertrag die grundsätzliche Weitergeltung der DDR-Ehrenpensionsverordnung bis zum 31. Dezember 1991 vereinbart. Bereits mit dem 1. Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion verpflichtete sich die DDR, ihr gesamtes Rentenrecht an das bundesdeutsche System anzugleichen. Dazu verabschiedete die Volkskammer am 28. Juni 1990 das Rentenangleichungsgesetz, das eine Umstellung der Beträge der bestehenden Renten, und damit auch der „Ehrenpensionen“, in gleicher Höhe auf DM vornahm. Am 2. Oktober 1990 betrug die Höhe der „Ehrenpensionen“ demnach 1.700 DM für die „Kämpfer gegen den Faschismus“ und 1.400 DM für die „Verfolgten des Faschismus“. Wegen der erheblichen rechtsstaatlichen Mängel wurde die Ehrenpensionsverordnung jedoch mit dem Entschädigungsrentengesetz (EntschRG) zum 1. Mai 1992 auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt.

Demnach wurden die „Ehrenpensionen“ an Verfolgte des NS in der ehemaligen DDR grundsätzlich als Entschädigungsrenten weitergezahlt. Die Unterscheidung in „Kämpfer“ und „Verfolgte“ wurde abgeschafft und stattdessen einheitliche Renten in Höhe von 1.400 DM festgesetzt. Für Verfolgte, denen rechtsstaatswidrig von den früher zuständigen DDR-Stellen die Leistungen versagt oder – nach ursprünglicher Bewilligung – nachträglich wieder entzogen worden waren, wurde ein Neuantragsrecht eingeräumt. Zudem erhielten mit den „Richtlinien für eine ergänzende Regelung über Entschädigungen für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet“ vom 13. Mai 1992 diejenigen Opfer des NS einen Anspruch auf Entschädigungsrenten, die in der Bundesrepublik als Verfolgte im Sinne des BEG gelten würden, aber in der DDR die Anerkennungsvoraussetzung nicht erfüllt hatten und bis dato keine Leistungen erhalten hatten.

Ehemalige Verantwortliche der SED Diktatur, die Nutznießer eines rechtsstaatswidrigen Zuerkennungsverfahrens der Ehrenpensionen gewesen waren, konnten von diesen Renten ausgenommen werden. Zu diesem Zweck konnte nach § 5 des EntschRG die Aberkennung oder Kürzung des Rentenanspruches bei schwerwiegenden Verstößen gegen „die Grundsätze der Menschlichkeit der Rechtsstaatlichkeit“ erfolgen.

 

Kerzenanzünden an Gedenkstätte.

Ein Schweigemarsch mit Kerzen fand am 9. November 1989 von der Nikolaikirche beginnend durch Leipzig statt. Ziel war die jüdische Gedenkstätte in der Gottschedstraße zur Erinnerung an die Novemberpogrome von 1938.

Des Weiteren wurde in Artikel 2 der Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR festgelegt, dass weitere Entschädigungen bislang nicht entschädigter jüdischer NS-Verfolgte mit Hilfe der Jewish Claims Conference (JCC), ein Zusammenschluss jüdischer Organisationen, angestrebt werden sollten. Damit bezog man sich auf den ersten inhaltlichen Beschluss der Volkskammer vom 12. April 1990, in dem sich die Volkskammer bereits zur einer gerechten Entschädigung der materiellen Verluste der Opfer des NS-Regimes bekannt hatte:

„Die vertragschließenden Seiten geben ihrer Absicht Ausdruck, gemäß Beschluß der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik vom 14. [sic!] April 1990 für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste der Opfer des NS-Regimes einzutreten. In der Kontinuität der Politik der Bundesrepublik Deutschland ist die Bundesregierung bereit, mit der Claims Conference Vereinbarungen über eine zusätzliche Fondslösung zu treffen, um Härteleistungen an die Verfolgten vorzusehen, die nach den gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland bisher keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben.“

Bereits seit 1980 konnten jüdische NS-Verfolgte aufgrund von Härtefallrichtlinien durch die Jewish Claims Conference (JCC) Einmalbeihilfen in Höhe von 5.000 DM erhalten. Diese 1980 etablierten Härtefallrichtlinien sind seit 1992 Bestandteil der sogenannten Artikel-2-Vereinbarung, die sich auf den Artikel der Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag bezog und 2012 eine Neufassung erhielt.

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