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TÄTER

Volkskammer 1990

Im November 1989 leitete die Übergangsregierung Modrow unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Medien erste Ermittlungen gegen SED-Funktionäre und hochrangige Offizielle des SED-Regimes wegen Amtsmissbrauch und Korruption ein. Diese wurden nach den freien Volkskammerwahlen im März 1990 fortgeführt.

Die strafrechtliche Aufarbeitung in der DDR 1990

Die strafrechtliche Aufarbeitung in der DDR 1990

Seit Beginn des Jahres 1990 gab es den ernsthaften Versuch, die strafrechtliche Verfolgung der Hauptverantwortlichen auf den Weg zu bringen. So leitete die DDR-Justiz größere Prozesse gegen ehemalige hochrangige Funktionäre ein, die hauptsächlich Vorwürfe der Wahlfälschung, des Amtsmissbrauchs und der Korruption betrafen. Diese Verfahren wurden auch nach den freien Wahlen am 18. März 1990 trotz einiger rechtstaatlicher Bedenken unter dem ausdrücklichen politischen Willen der Mehrheit der Volkskammerabgeordneten fortgeführt und ausgeweitet. Auch wenn der neu gewählte Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU/DA) bereits in seiner Regierungserklärung vor der Volkskammer am 19. April davor warnte, das Recht mit Erwartungen der Moral zu überfrachten.

  • „Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten. Dazu brauchen wir einen prinzipiellen Ansatz. […] Und wir geben uns nicht der Illusion hin, daß Moral und Recht identisch wären, daß wir mit Hilfe des Rechts Moral erzwingen könnten.“

    Lothar de Maizière (Ministerpräsident),
    Volkskammer 10/3, 19.4.1990, S. 43.
  • „Wie können nach dieser Veränderung innerhalb dieses 6. Strafrechtsänderungsgesetzes die Staats- und Parteifunktionäre und die Organisationen bzw. Institutionen, die sich in der Vergangenheit – ich sage einmal – schuldig gemacht haben, auf rechtsstaatlicher Grundlage zur Verantwortung gezogen werden? Klar ist einerseits, daß sie nur belangt werden können, wenn sie sich gegen damals gültige Gesetze gewandt haben. Und klar ist auch, daß die hier neu eingeführten Paragraphen – z. B. Amtsmißbrauch – nicht rückwirkend angewandt werden können.“

    Bernd Reichelt (Bündnis 90/Grüne),
    Volkskammer 10/3, 14.6.1990, S. 428.

Eine Hürde für die Strafverfolgung im letzten Jahr der DDR war die Reform des DDR-Strafrechts. Dabei ging es vor allem um die Abschaffung des politischen Strafrechts, das seit Anfang 1990 am Zentralen Runden Tisch und in der Modrow-Regierung intensiv diskutiert wurde und die Voraussetzung für die Rehabilitierung von Opfern politischer Strafjustiz bildete. Die Abschaffung vieler einschlägiger Paragraphen zum politischen Strafrecht erfolgte durch den Beschluss des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 29. Juni 1990 durch die Volkskammer.

Auch der Paragraph § 165 des DDR-Strafgesetzbuches sollte nach Inkrafttreten des 1. Staatsvertrages nicht mehr angewendet werden. Dieser war aber eine der wichtigsten Bestimmungen zur Verfolgung ehemaliger Spitzenfunktionäre. Durch diese Änderungen und mit der Aussicht, dass durch die deutsche Einheit eine Übernahme des bundesdeutschen Strafgesetzbuches (StGB) in Aussicht stand, war es mehr als unsicher, ob die begonnenen Strafverfahren unter den neuen gesetzlichen Regelungen noch fortführbar waren.

Die Verfolgung der ehemaligen Funktionäre war jedoch von exekutiver wie legislativer Seite in Ost und West politisch erwünscht und sollte fortgeführt werden. Daher wurde mit dem 6. Strafrechtsänderungsgesetz der Paragraph 10 eingeführt: „Soweit vor Inkrafttreten dieses Gesetzes Straftaten nach den Vorschriften der §§ 165, 166 Absatz 1 Ziffer 1 und Absatz 2, 167 bis 171, 173 Absatz 1 Ziffern 1 und 3, Absätze 2 und 3, sowie 214 begangen und Strafverfahren eingeleitet wurden, sind in diesen Fällen die vorgenannten Bestimmungen der Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit weiterhin zugrunde zu legen. Zusätzlich zu einer Verurteilung wegen verbrecherischen Vertrauensmißbrauchs ist unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen der Ausspruch und die Verwirklichung einer Vermögenseinziehung gemäß § 57 StGB weiterhin zulässig.“ Dieser Paragraph regelte die Weiterverfolgung der Funktionärskriminalität, die nun fortgeführt werden konnte.

Dokument

Die Ermittlungs- und Strafverfolgungsorgane der DDR erhoben kontinuierlich bis in den August 1990 hinein neue Anklagen gegen mehrere Funktionäre des Staatsapparates, u. a. auch gegen Ratsvorsitzende und Kombinatsleiter. Auch ehemalige Politbüromitglieder wie Gerhard Müller und Werner Krolikowski wurden angeklagt. Am 11. Mai erging ein erstes Urteil aufgrund von Amtsmissbrauch gegen Rolf Opitz, dem ehemaligen 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung in Leipzig. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, die jedoch in der einzigen Entscheidung des Obersten Gerichtes der DDR in einem Amtsmissbrauchsfall im September wieder aufgehoben wurde und zur neuen Verhandlung zurück überwiesen wurde. Erich Mielke wurde am 26. Juli 1990 wegen der Unterstützung von RAF-Terroristen erneut inhaftiert. Zu dieser Zeit liefen gegen ihn bereits Ermittlungen wegen Planung eines Internierungslagers für Regimegegner, wegen Vertrauensmissbrauchs, Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung.

Gerhard Müller im Gespräch mit Arbeitern.

Das ehemalige Politbüromitglied Gerhard Müller (rechts) wurde im Sommer 1990 wegen Amtsmissbrauch und Korruption angeklagt.

Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht begann damit bereits in der Endphase der DDR. Insgesamt hatte die DDR-Bevölkerung hohe und zum Teil unerfüllbare Erwartungen an die strafrechtliche Aufarbeitung. Das Unrecht sollte sichtbar gemacht werden und den Opfern durch die Bestrafung der Täter Gerechtigkeit widerfahren. Gerechtigkeit stellt jedoch keine Kategorie im Strafrecht dar. Die Strafverfolgung musste daher oft hinter dem zurückbleiben, was sich insbesondere SED-Opfer und Oppositionelle erhofft hatten. Im Rahmen der strafrechtlichen Verfolgung leitete die DDR-Justiz bis zum 2. Oktober 1990 insgesamt 180 Anzeigeprüfungs- und Ermittlungsverfahren gegen 124 Personen ein. Davon wurden 41 Fälle vor DDR-Gerichten verhandelt. Bis zur deutschen Einheit ergingen bereits 7 rechtskräftige Strafurteile sowie 11 Strafbefehle. Diese Fälle betrafen hauptsächlich Vorwürfe der Wahlfälschung, des Amtsmissbrauchs und der Korruption. Trotzdem konnten nur wenige Verfahren bis zur deutschen Einheit abgeschlossen werden. Mit der deutschen Einheit übernahm die Justiz der Bundesrepublik Deutschland die Verfolgung und Ahndung des SED-Unrechts.

Stimmzettelzählung.

Am 7. Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Erstmals überwachten unabhängige Bürgerinnen und Bürger die Stimmenauszählung und konnten nachweisen, dass Wahlergebnisse manipuliert wurden. Nach den freien Wahlen 1990 ermittelte die DDR-Justiz auch gegen Vorwürfe dieser Wahlfälschung.

Forderungen nach strafrechtlicher Aufarbeitung in der Volkskammer

Forderungen nach strafrechtlicher Aufarbeitung in der Volkskammer

Die hohen Erwartungen an die Strafverfolgung der Täter und die damit einhergehende Unzufriedenheit zeigte sich auch immer wieder in den Debatten der Volkskammer. Am 23. August 1990 äußerte beispielsweise Lothar Anys von der DSU im Rahmen einer Diskussion über die Entlassung der Angehörigen des ehemaligen MfS aus dem öffentlichen Dienst seinen Unmut über die schleppende strafrechtliche Aufarbeitung:

„Es ist unseres Erachtens ein ausgemachter Skandal – und damit geben wir der Meinung der Mehrheit unserer Bevölkerung Ausdruck – daß es immer noch nicht gelungen ist, etwa gegen Honecker, Mielke, Tisch und die übrigen früheren SED-Führungskader und ebenso alle anderen auf Bezirks- und Kreisebene schuldig gewordenen Funktionäre und ihre Helfershelfer Prozesse einzuleiten. Wir wissen sehr, wie schwierig unter rechtsstaatlichen Bedingungen solche Prozesse zu führen sind. Aber ohne wenigstens den Mut zu solch einem Schritt wird es auch eine echte und dauernde Vergangenheitsbewältigung nicht geben.“

Dankwart Brinksmeier von der SPD forderte in derselben Debatte, dass klare Rechtsverhältnisse geschaffen werden müssten, was in diesem Lande als strafwürdig bzw. verbrecherisch zu bezeichnen sei. Dass dies noch nicht geschehen sei, läge vor allem an der Regierung, wo offenbar der nötige Wille fehle.

  • „Den noch lebenden Hauptverantwortlichen, wie Honecker, Mielke und Co., ist der Prozeß zu machen. Anklagepunkte sollten unter anderem sein: Aufruf zum Mord an der innerdeutschen Grenze, das Einmauern von Millionen und die Stimulierung der RAF-Täter zum Mord durch in Aussicht gestellte Pensionen in der DDR.“

    Gunter Weißgerber (SPD),
    Volkskammer 10/26, 20.7.1990, S. 1141.
  • „Zur Staatssicherheit. Das Bewußtsein der Tatsache, daß viele der Täter zugleich Opfer waren, fordert Sorgfalt und die Bereitschaft, Menschen eine Chance zum Neuanfang zu geben. Die Verantwortung gegenüber den Opfern fordert aber auch, daß jene, die viele Menschen unglücklich gemacht haben, die verfolgt haben und vertrieben haben, in den Gerichtssaal gehören.“

    Marianne Birthler (Bündnis 90/Grüne),
    Volkskammer 10/4, 20.4.1990, S. 69.
  • „[E]s war nach 12 Jahren Hitlerdiktatur und einem verheerenden Weltkrieg möglich, daß sich in einem Teile Deutschlands wieder eine Diktatur etablieren konnte. Und wir müssen das Gewissen all derer schärfen, die Bürger dieses Noch-Landes sind, die Erinnerung wachzuhalten. Und erreichen damit, daß den Opfern dieses System Gerechtigkeit wiederfährt, daß die Schuldigen bestraft werden und daß nie wieder eine Diktatur – gleich welcher Art und gleich welcher Coleur – in Deutschland je wieder eine Chance hat.“

    Ralf Geisthardt (CDU/DA),
    Volkskammer 10/32, 24.8.1990, S. 1455.

Das Magazin „Controvers“ berichtete am 8. Juni 1990 über den Stand der Ermittlungen gegen Erich Honecker.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

Im September 1990 beschloss die letzte Volkskammer der DDR, den gesamtdeutschen Gesetzgeber aufzufordern, die strafrechtliche Verfolgung des SED-Unrechts auch nach der deutschen Einheit sicherzustellen. Am 28. September beantragten mehr als 20 Abgeordnete: „Die Volkskammer möge beschließen bzw. als noch offenen Beschluss dem zukünftigen Bundestag übergeben, daß erstens die ehemaligen Auftraggeber für das MfS/AfNS, wie 1. Sekretäre der Kreisleitungen und Bezirksleitungen, Vorsitzende der Räte der Bezirke sowie alle Mitglieder des Politbüros und des ZKs der SED auf ihre rechtswidrige Tätigkeit überprüft werden und ggf. gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden.“

Durch diese Forderung sollte auch die SED als Auftraggeber für das MfS/AfNS wieder mehr in den Fokus bei der „Aufdeckung der verbrecherischen Aktivitäten“ gerückt werden, da bisher in der Aufklärungsarbeit meist das MfS im Mittelpunkt stand.

Manfred Buck (CDU/DA) brachte den Antrag der mehr als 20 Abgeordneten am 28. September 1990 in die Volkskammer ein.
Quelle: Deutscher Bundestag.

Dokument

Diese erste Forderung des Antrages wurde daraufhin in den Rechtsausschuss überwiesen, nochmals überarbeitet und erneut der Volkskammer vorgestellt. Der Antrag musste umformuliert werden, da in der ursprünglichen Fassung das Parlament eine unmittelbare Strafverfolgung, die eigentlich nur den Gerichten vorbehalten ist, veranlassen bzw. eine Überprüfung, die zu einer Strafverfolgung führen sollte, ansetzen sollte. Ein Parlament habe jedoch nicht die Aufgabe eine Strafverfolgung durchzuführen, so der Rechtsausschuss. Daher schlug der Rechtsausschuss folgende Formulierung vor, die für den Deutschen Bundestag als Richtschnur zum Handeln dienen sollte:

„Dem gesamtdeutschen Parlament wird empfohlen, unter Nutzung der Ergebnisse der Sonderausschüsse der Volkskammer, welche die Tätigkeit des MfS/AfNS untersucht haben, die Verflechtung zwischen Partei- und Regierungsdienststellen und dem MfS/AfNS in geeigneter Weise zu überprüfen und die notwendigen Maßnahmen zu initiieren, die geeignet sind, Schuldige zur Verantwortung zu ziehen.“

Diese Beschlussempfehlung wurde bei einigen Enthaltungen von der Volkskammer beschlossen. Entscheidend für die weitere Strafverfolgung im gesamtdeutschen Gebiet war aber nicht dieser Beschluss der Volkskammer, sondern in erster Linie die Regelungen dazu im Einigungsvertrag.

Die zweite Forderung des Antrages der mehr als 20 Abgeordneten, in der die Immunität des ehemaligen Ministerpräsidenten und des Mitgliedes der Volkskammer Hans Modrow aufgehoben werden sollte, wurde vom Ausschuss für Immunität und Wahlprüfung abgelehnt. Zur Stellung eines Antrages auf Aufhebung der Immunität seien in erster Linie nur die Staatsanwaltschaften, die Gerichte und die Gläubiger im Vollstreckungsverfahren berechtigt. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung könne nur in besonderen Fällen eigenständig tätig werden, beispielsweise bei Bagatell- oder Verkehrsdelikten. Daher bestehe keinerlei Handlungsspielraum für den Ausschuss diesem Antrag auf Aufhebung der Immunität zuzustimmen.

Lothar Barthel (CDU/DA) begründete im Namen des Rechtsausschusses, warum der Antrag der 20 Abgeordneten umformuliert werden musste.
Quelle: Deutscher Bundestag.

Strafrechtliche Verfolgung von hauptamtlichen Stasimitarbeitern

Strafrechtliche Verfolgung von hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MfS

In der Debatte um das „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personengebundenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit“ am 24. August 1990 diskutierten die Volkskammerabgeordneten auch über die Verfolgung von Straftaten und MfS-Straftaten im Besonderen. Die Mehrheit der Abgeordneten strebte die Einleitung von Verfahren gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit mit Hilfe der Einsicht in die Stasi-Akten an. Die Intention des Gesetzes zur Sicherung der Akten sei eindeutig, so Ralf Geisthardt (CDU/DA) in seinem Redebeitrag. Es gehe um Aufarbeitung, es gehe um Rehabilitierung, und es gehe um Bestrafung von Verbrechen, denn das Volk habe ein Anrecht, dass diese Verbrechen gesühnt werden. Es dürfe keine Aktenvernichtung geben.

Auch im beschlossenen „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personengebundenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit“ wurde festgeschrieben, dass die Einsicht und Nutzung der Akten zum Zweck der Strafverfolgung und der Verfolgung von Verbrechen im Rahmen der juristischen Aufarbeitung als Beweismittel möglich sein sollte.

Dokument

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    Beschlussempfehlung des Sonderausschusses: Gesetz
    über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS, DS 165 a, 24.7.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 35, Bl. 570-580.

Gang mit Großbetriebswäschekörben.

Die Räume der Postkontrolle des MfS wurden von der DDR-Staatsanwaltschaft am 7.2.1990 versiegelt. Republikweit kontrollierte die Abteilung M des MfS Postsendungen in Bahnhöfen und Ämtern. Verstöße gegen das Post-und Fernmeldegeheimnis waren jedoch nach DDR-Gesetzen nicht oder nur begrenzt strafbar.

Der „Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS“ war ebenfalls dieser Ansicht und stellte bereits während seiner Tätigkeit im Sommer 1990 Hinweise auf Vergehen von ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MfS zusammen. Die DDR-Staatsanwaltschaft ging diesen Hinweisen jedoch nicht nach. So waren die Erwartungen an die Ermittlungstätigkeiten der Justizorgane in der Bundesrepublik nach der deutschen Einheit hoch, die sich jedoch nur bedingt erfüllen konnten. Während die Tötungen an der Grenze geahndet werden konnten, blieb die juristische Verfolgung von MfS-Unrecht in den 1990er Jahren weitgehend erfolglos. Es erwies sich als undurchführbar, Handlungen einzelner MfS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter mit den Mitteln des Strafrechts des geeinten Deutschlands umfassend zu ahnden. Nicht jede Repressionsmaßnahme des MfS verstieß zudem gegen geltende Gesetze. Dazu gehörte etwa, dass das Öffnen privater Briefe oder das heimliche Betreten von fremden Wohnungen nur verfolgt werden konnte, wenn der Geschädigte selbst innerhalb eines kurzen Zeitfensters Anzeige erstattete. Verstöße gegen das Post-und Fernmeldegeheimnis wiederum waren nach DDR-Gesetzen nicht oder nur begrenzt strafbar. Justiziabel waren somit nur die die schwersten MfS-Straftaten wie Verschleppung, Mord und Mordversuch.

Gerd Poppe (Bündnis 90/Grüne) erinnert sich an die äußert engen Grenzen der juristischen Aufarbeitung, auch im Hinblick auf die Strafverfolgung von MfS-Unrecht.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022.

Die Debatte um Amnestien für DDR-Spione im Zuge der deutschen Einheit

Die Debatte um Amnestien für DDR-Spione im Zuge der deutschen Einheit

Im Sommer 1990 ging es im Rahmen der Verhandlungen um den Einigungsvertrag unter anderem auch um eine Amnestie von Straftaten. Der Bundesregierung lag daran, die Gefahr einer Abwerbung von MfS-Agenten an den KGB zu verhindern. Das bundesdeutsche Innenministerium stand in dieser Sache im engen Kontakt zum Ministerium des Inneren der DDR. Beide Innenministerien entschlossen sich daher, für eine Amnestie für hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik spioniert hatten, zu werben. Sie stießen dabei aber sowohl im Bundestag als auch in der Volkskammer auf Widerstand.

Am 13. September 1990 stellte die Fraktion DSU einen „Antrag betreffend Vernichtung von Akten des militärischen Geheimdienstes der DDR“. Darin wurde der Ministerrat der DDR aufgefordert, die Vernichtung von Akten des militärischen Geheimdienstes der DDR sofort zu unterbinden. Das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung hatte beginnend im August 1990, jedoch ohne ein Mandat der Volkskammer, Akten des militärischen Geheimdienstes der DDR vernichten lassen.

In der Debatte über den Antrag wurde auch darüber diskutiert, wie mit Militärspionage umzugehen sei, die sowohl gegen die Bundesrepublik als auch in umgekehrter Richtung betrieben wurde. Sowohl Lothar de Maizière als auch Wolfgang Schäuble plädierten dafür, eine Amnestie für Militärspione einzuführen. So müsse niemand, der in der Bundesrepublik für die DDR spioniert hat, sich vor bundesdeutschen Gerichten verantworten.

Hansjoachim Diedge sitzt an einem Tisch.

Der ehemalige Agent des Ministeriums für Staatssicherheit Hansjoachim Tiedge wollte im Juni 1990 der Haft durch Flucht ins befreundete Ausland entgehen. Tiedge war im Jahr 1985 in die DDR als Chef der Gegenspionage des Bundesamtes für Verfassungsschutz übergelaufen. Eine Amnestie für DDR-Spione wurde zwar in der Volkskammer und im Deutschen Bundestag debattiert, aber nicht beschlossen.

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Hansjoachim Walther argumentierte hingegen im Namen der DSU, dass es dem Gesetzgeber obliegen sollte, über eine Amnestie zu entscheiden und damit darüber, ob die der Spionage Verdächtigen, seien es Bürgerinnen und Bürger der DDR oder der Bundesrepublik, strafrechtlich zu verfolgen seien. Zudem wäre es ohne eine Amnestie, die auf Politikebene entschieden wird, Sache der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte, darüber zu urteilen, ob bei Bürgerinnen und Bürgern der DDR eine Bestrafung überhaupt in Betracht komme. Es dürfe durch die Aktenvernichtung keine Strafverfolgung verhindert werden. Dies sei ein „Affront gegen den Rechtsstaat“. Zudem würden mit der Aktenvernichtung auch Kenntnisse darüber, wie die Spionage ablief oder welche militärischen und technischen Geheimnisse ausspioniert und ggf. an ausländische Geheimdienste weitergegeben worden sind, nicht mehr bzw. schwer nachvollziehbar sein. Die DSU sehe in der Aktenvernichtung kurz vor dem Beitritt „eine Begünstigung von Straftätern“. Daher beantragte die Fraktion DSU die Vernichtung der Akten auszusetzen. Auch die SPD kritisierte, dass dieses Thema nicht in der Volkskammer debattiert wurde, sondern nur auf Regierungsebene. Dem Antrag der DSU wurde schließlich mehrheitlich bei Stimmenthaltungen und Gegenstimmen zugestimmt.

Auch die DDR-Justiz selbst lehnte jede Form der Amnestie ab. Eine Aufnahme der Amnestieregelung in den Einigungsvertrag scheiterte so schließlich am Widerstand in der Öffentlichkeit, des Bundestages und der Volkskammer. Die Debatte über eine Amnestie für hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik spioniert hatten, wurde auch im gesamtdeutschen Parlament nicht weitergeführt. Dies hatten die Bundestagsfraktionen CDU/CSU und FDP noch vor dem 3. Oktober 1990 gefordert.

Regelungen im Einigungsvertrag

Regelungen im Einigungsvertrag

Im Rahmen der Einigungsverhandlungen wurde auf Regierungsebene auch über die Rechtsgrundlage der Strafverfolgung im geeinten Deutschland diskutiert. Dem im Grundgesetz verankerten Rückwirkungsverbot (GG Artikel 103) Rechnung tragend, wurde auf die Schaffung eines rückwirkenden Sonderstrafrechts (wie etwa im Nürnberger Prozess nach 1945) verzichtet. Nach diesem Rückwirkungsverbot dürfen Taten nur bestraft werden, wenn sie bereits zum Tatzeitpunkt gesetzlich mit Strafe belegt waren. Es wurde daher festgelegt, dass bei der Strafverfolgung Taten nur geahndet werden sollten, wenn sie sowohl nach DDR-Recht (dem zur Tatzeit geltenden Recht) als auch nach dem bestehenden bundesdeutschen Recht strafbar waren. In Fällen, in denen das bundesdeutsche Recht milder war, sollte dieses anstelle des DDR-Rechts gemäß der rechtlichen Vorgaben Anwendung finden. Wenn die Tat nach dem zur Tatzeit geltendem Recht nicht strafbar war, konnte die betreffende Person auch im vereinten Deutschland nicht bestraft werden.

  • Hier ist das Mahnmal erschossener Flüchtlinge am Spreeufer in West-Berlin zu sehen. Viele Taten blieben auch nach der deutschen Einheit straffrei. Bei den Mauerschützenprozessen konnte sich die Bundesjustiz jedoch Spielräume u. a. mit Bezug auf das Völkerrecht erkämpfen und so zumindest bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen Verbrechen ahnden.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Bild-79_0811_POL_MauerOpf_02/Klaus Mehner.

  • Die Bürgerrechtlerin und Mitbegründerin des Neuen Forums (NF), Bärbel Bohley (Mitte), fasste den Unmut über die schleppende strafrechtliche Aufarbeitung für viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger treffend zusammen: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Bild-89_1104_POL-Demo_100/Klaus Mehner.

Die bundesdeutsche Justiz sah sich daher nach der deutschen Einheit mit der Situation konfrontiert, dass sie auf Grundlage des Einigungsvertrages dazu zwar verpflichtet war, begangene Verbrechen zu verfolgen. Viele Taten blieben jedoch, da sie nach DDR-Recht nicht strafbar waren bzw. ihre Strafbarkeit äußerst fraglich war, straffrei oder konnten – moralischem Gerechtigkeitsempfinden nach – nur unzureichend bestraft werden. Spielräume konnte sich die Bundesjustiz mit Bezug auf das Völkerrecht und der „Radbruch’schen Formel“ des deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch erkämpfen und so zumindest bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen Verbrechen ahnden und auch juristisch als Unrecht klassifizieren. Dies kam vor allem bei den Mauerschützenprozessen zum Tragen. Dass so offenkundiges Unrecht vielfach strafrechtlich nicht ausreichend geahndet werden konnte, war für Laien trotzdem nur schwer nachvollziehbar. Diese Desillusionierung zeigte sich beispielsweise in Bärbel Bohleys berühmten und viel zitierten Äußerung: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“.

Die geführten Strafverfahren am Ende der DDR und später dann auch nach der deutschen Einheit haben trotzdem zur Aufklärung und Anerkennung des DDR-Unrechts einen zentralen Beitrag geleistet. Sie haben sich auf die Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen konzentriert, insbesondere im Hinblick auf die an der deutsch-deutschen Grenze begangenen Gewalttaten. Zudem wurde der in der DDR begonnene demokratische Willensbildungsprozess fortgeführt, indem wegen Wahlfälschung, Amtsmissbrauch und Korruption weiter ermittelt wurde.

Christoph Matschie (SPD) resümiert, warum gerade die politische Bewertung und Aufarbeitung ein wichtiger Pfeiler in der Auseinandersetzung mit der DDR war, auch im Verhältnis zur juristischen Aufarbeitung – die klare Grenzen aufwies.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022.

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