VERFASSUNG
Bundestag 1989 – 1990
Nach dem Fall der Berliner Mauer entstand im Bundestag eine Debatte über die Frage: Wenn es zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommt, braucht das vereinte Deutschland dann eine neue Verfassung oder soll das in der Bundesrepublik geltende Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung beibehalten werden?
Das Grundgesetz
Als die Diktatur in der DDR im Herbst 1989 durch die Friedliche Revolution gestürzt wurde, hatte die Bundesrepublik bereits seit vierzig Jahren eine demokratische Verfassung – das Grundgesetz. Das Grundgesetz war 1948/1949 vom Parlamentarischen Rat im Auftrag der westlichen Besatzungsmächte ausgearbeitet worden. Die Erfahrungen und Lehren aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft prägten den Aufbau und den Inhalt des Grundgesetzes. So sichert beispielsweise bereits Artikel 1 die Würde des Menschen.
Das Grundgesetz wurde von den Volksvertretungen der deutschen Länder mit Zweidrittelmehrheit angenommen und trat am 23. Mai 1949 in Kraft. Bereits zu dieser Zeit hatten die Mütter und Väter des Grundgesetzes an die Überwindung der Teilung Deutschlands gedacht. Dies spiegelte sich schon in der Präambel wider. Sie rief die Deutschen dazu auf, die Teilung zu überwinden, außerdem definierte sie das Grundgesetz als Verfassung für eine Übergangszeit:
„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk […], um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“
In Artikel 23 hieß es in der Fassung vom 23. Mai 1949:
„Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“
Das Grundgesetz endete mit dem Artikel 146, in dem es hieß:
„Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Der Parlamentarische Rat bei der Wahl des Vizepräsidenten während der konstituierenden Sitzung in der ehemaligen Pädagogischen Akademie in Bonn. Datierung: 1.9.1948
Dokument
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Grundgesetz, BGBL 1, 23.5.1949. Mit freundlicher Genehmigung des Bundesanzeiger Verlages
Die deutsche Einheit und die Frage nach einer gesamtdeutschen Verfassung
Was besagten diese drei Abschnitte des Grundgesetzes hinsichtlich der staatlichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten? Bedeutete die deutsche Einheit und die Definition des Grundgesetzes als Provisorium, dass sich die Deutschen eine neue gesamtdeutsche Verfassung geben sollten? Oder konnte die DDR über den Artikel 23 der Bundesrepublik beitreten? Welche Lösung war die bessere?
Mit diesen Fragen beschäftigte sich der Bundestag in den Monaten nach dem Mauerfall. Zunächst schien nicht in Frage gestellt zu sein, dass es im Zuge der deutschen Einheit zu einer neuen gesamtdeutschen Verfassung kommen muss. Dafür sprechen einzelne Äußerungen, wie die des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU Alfred Dregger am 8. November 1989, das vereinte Deutschland werde „eine demokratische Verfassung nach dem Beispiel des Grundgesetzes“ haben. Das Blatt wendete sich schließlich Anfang Februar 1990 mit der Aussage des Bundesjustizministers Hans A. Engelhard (FDP): „Das Grundgesetz wäre eine gute gesamtdeutsche Verfassung“. Obwohl wenige Tage später am 11. Februar 1990 Bundeskanzler Kohl in einem Presseinterview noch davon sprach, dass es zu einer neuen gesamtdeutschen Verfassung kommen müsse, positionierten sich Kohl, die Bundesregierung sowie die Bundestagsfraktionen CDU/CSU und FDP wenig später mehrheitlich für das Grundgesetz als Verfassung des künftigen gesamtdeutschen Staates.
Bundeskanzler Helmut Kohl (vorne rechts) mit dem Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher (Mitte) im Flugzeug auf dem Rückflug von Moskau nach Bonn. Links im Hintergrund: Jürgen Chrobog, Pressesprecher des Auswärtigen Amts. Datierung: 11.2.1990.
Theo Waigel (1989-1998 Bundesminister der Finanzen) spricht über das Interview, in dem sich Bundeskanzler Helmut Kohl im Februar 1990 für eine neue gesamtdeutsche Verfassung aussprach. Er erläutert seine persönliche Haltung in der Verfassungsdebatte und seine Ablehnung der Aufnahme des Rechts auf Arbeit in die Verfassung.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022
Der „Artikelstreit“: Artikel 23 oder Artikel 146?
Damit einhergehend plädierten die Bundesregierung und die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und FDP für den Weg zur deutschen Einheit über den Artikel 23 des Grundgesetzes, der einen Beitritt der DDR zum Rechtsgebiet – also zum Grundgesetz – der Bundesrepublik vorsah. Dieses Verfahren bot aus ihrer Sicht mehrere Vorteile: Die deutsche Einheit könnte auf diese Weise sehr schnell und nicht über einen langwierigen Verfassungsprozess hergestellt werden. Durch eine neue Verfassung würde ein neues Staatensubjekt entstehen, woraufhin Neuaufnahmeanträge etwa bei den Vereinten Nationen und der europäischen Gemeinschaft gestellt werden müssten. Außerdem könnte es zu Reparationsforderungen, resultierend aus dem Zweiten Weltkrieg, kommen. Die Inhalte einer neuen Verfassung waren nicht vorhersehbar, das Grundgesetz hingegen habe sich „seit 40 Jahren bewährt“. Der Weg über Artikel 23 war – so die Ansicht der Bundesregierung und der Fraktionen der CDU/CSU und FDP – die sicherste und schnellste Lösung zur Herstellung der deutschen Einheit.
Die größte Widersacherin zu dieser Position fand sich in der Fraktion die GRÜNEN. In dem Weg über Artikel 23 sahen die GRÜNEN eine Vereinnahmung der DDR in eine erweiterte Bundesrepublik, ohne dass daraus für die alte Bundesrepublik Änderungen erfolgen würden. Diese Art der Vereinigung wurde von der Fraktion als ein bloßer „Anschluss“ der DDR und nicht als eine Vereinigung auf Augenhöhe wahrgenommen. Aus diesem Grund sprachen sich die GRÜNEN für den Weg zur deutschen Einheit über den Artikel 146 des Grundgesetzes und damit für eine neue gesamtdeutsche Verfassung aus. Den Auftrag dazu leiteten sie aus dem Zusammenspiel zwischen der dem Grundgesetz vorangestellten Präambel und dem letzten Artikel des Grundgesetzes (dem Artikel 146) her. Sie hatten die Vision einer breitangelegten gesamtgesellschaftlichen Debatte, die in einer Volksabstimmung münden sollte. Die Bevölkerung sollte auf diese Weise von den Zuschauerrängen des Vereinigungsprozesses zur aktiven Mitgestaltung des neuen Staats aufgerufen werden.
Die Frage der Herbeiführung der deutschen Einheit wurde dann jedoch durch die erste demokratische Volkskammerwahl am 18. März 1990 entschieden. Bei der Wahl setzten sich die Befürworter des Beitritts nach Artikel 23 klar durch. In der Nacht zum 23. August 1990 beschloss die Volkskammer schließlich den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23.
Die Forderung nach einer Volksabstimmung über die gesamtdeutsche Verfassung
Die Auseinandersetzungen über die Verfassung für das vereinte Deutschland endeten damit nicht. Trotz der Herstellung der Einheit über Artikel 23 bestand nach Meinung der Fraktion der GRÜNEN das Gebot der Herstellung einer neuen, von allen Deutschen legitimierten Verfassung weiter. In der Bundestagsdebatte vom 26. April 1990, bei der ein Antrag der Fraktion der GRÜNEN unter dem Titel „Volksabstimmung zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten und verfassungsgebende Versammlung statt Anschluß der DDR“ diskutiert wurde, erklärte Herta Däubler-Gmelin (SPD) die Diskussion um Artikel 23 und Artikel 146 für müßig: Artikel 23 würde weder „Anschluß“ bedeuten, noch, dass das Grundgesetz auf dem Gebiet der DDR unverändert in Kraft gesetzt werden müsse. Auch über diesen Weg seien Vereinbarungen möglich, die in einer Volksabstimmung münden könnten. Die SPD plädierte daher für einen Weg „des gestreckten Art. 23 mit der Folge des Art. 146“. Im weiteren Verlauf der Debatte, die sich über die Monate bis zum Einigungsvertrag und darüber hinaus hinzog, wurde insbesondere von der SPD eine Überarbeitung des Grundgesetzes gefordert, die in einer Volksabstimmung münden sollte. Auch in den Reihen der FDP wurden Stimmen nach einer Beteiligung der Bevölkerung am Prozess der Verfassungsgebung laut. So die Meinung von Hildegard Hamm-Brücher (FDP): „Erst aus dieser Beteiligung kann Gewißheit für ein neues Zusammenleben und für die eigenen Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger erwachsen. Soll der Beitritt der DDR nach Art. 23 des Grundgesetzes mehr und etwas anderes als ein Anschluß sein, dann brauchen wir hierfür mehr Geduld und langen Atem.“ Hamm-Brücher bezog sich dabei auf einen Beitrag des Thüringischen Landesbischofs Werner Leich.
Die Bundesregierung stand einem Volksentscheid kritisch gegenüber.
Hildegard Hamm-Brücher (FDP) spricht am 20.9.1990 im Deutschen Bundestag über die Bedeutung einer gemeinsamen Verfassung, die von allen Deutschen getragen wird. Quelle: Deutscher Bundestag
Hildegard Hamm-Brücher (FDP) bei einer Rede im Bundestag im Januar 1989.
Die Inhalte einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung
Die Forderung nach einer neuen Verfassung bzw. einer Überarbeitung des Grundgesetzes waren mit Vorstellungen verbunden, inhaltliche Aspekte in die Verfassung aufzunehmen, welche im Grundgesetz bislang keine Berücksichtigung fanden. Dazu äußerten sich die GRÜNEN besonders ausführlich. Sie befürworteten u.a. einen umfassenden Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen, eine Stärkung der Frauenrechte, eine Kulturklausel, den Ausbau von sozialen Rechten und föderativen Strukturen, ein Mehr an direkter Demokratie sowie den Schutz der Umwelt als Grundrecht und Staatsziel. In einem abstrakteren Sinne erhofften sie sich von einer gesamtgesellschaftlichen Verfassungsdebatte ein selbstkritisches Hinterfragen von vierzig Jahren Bundesrepublik, das Nachdenken über Lehren aus der deutschen Geschichte (hinsichtlich der nationalsozialistischen Vergangenheit, aber auch der DDR-Geschichte) sowie Impulse aus der Friedlichen Revolution. Diese Ideen glichen den Vorstellungen, die die AG „Neue Verfassung“ am Zentralen Runden Tisch der DDR erarbeitet hatte. Die Nähe, die Vertreterinnen und Vertreter der Fraktion der GRÜNEN zur Bürgerrechtsbewegung und zum Zentralen Runden Tisch hatten, kam auch durch die Forderung von Gerald Häfner nach einer neuen Staatssymbolik für das vereinte Deutschland zum Ausdruck. Er brachte den Vorschlag des Zentralen Runden Tisches, auf die deutsche Nationalflagge das Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ zu platzieren, in den Bundestag ein.
Einige dieser Ideen wurden auch von Vertreterinnen und Vertretern anderer Fraktionen geteilt. So pflichtete Hildegard Hamm-Brücher (FDP) dem Vorschlag bei, dass man den Verzicht auf Atomwaffen in die gesamtdeutsche Verfassung aufnehmen sollte. Die SPD sprach sich für die Stärkung der Frauenrechte und für die Aufnahme der „Vereinten Staaten von Europa“ als Staatsziel aus. Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine (SPD) betonte, dass Artikel 116 des Grundgesetztes, der die Zugehörigkeit zur Nation definiert, überholt werden müsse: Es gehe in Zukunft um eine Nation Europa. Neben den GRÜNEN plädierte auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD Herta Däubler-Gmelin dafür, Anregungen aus dem Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches für eine Änderung des Grundgesetzes zur gesamtdeutschen Verfassung aufzunehmen.
Die Vorstellung der Überarbeitung des Grundgesetzes zur gesamtdeutschen Verfassung konnte sich durchsetzen. Sie fand Eingang in den Einigungsvertrag.
Änderungen des Grundgesetzes durch den Einigungsvertrag
In Kapitel II des Einigungsvertrags finden sich hinsichtlich der Änderung des Grundgesetzes zwei Artikel. Artikel 4 „Beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes“ regelte u.a. die Streichung des Artikels 23 und die Umformulierung der Präambel und des Artikels 146. Letzterer sollte zunächst gestrichen werden, die SPD setzte jedoch seine Umformulierung und somit Erhaltung durch. Artikel 5 „Künftige Verfassungsänderungen“ enthält die Aufforderung an die gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, „sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere in bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern […], in bezug auf die Möglichkeit einer Neugliederung für den Raum Berlin/Brandenburg abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 des Grundgesetzes durch Vereinbarung der beteiligten Länder, mit den Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung.“
Wolfgang Schäuble (Bundesminister des Innern) spricht am 5.9.1990 im Deutschen Bundestag über die notwendige Streichung des Artikel 23 des Grundgesetzes, die neu formulierte Präambel des Grundgesetzes und die Änderung des Artikels 146 des Grundgesetzes. Quelle: Deutscher Bundestag
Wolfgang Schäuble und Günther Krause unterschreiben am 31. August 1990 den Einigungsvertrag.
Dokumente
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Antrag der GRÜNEN: Volksabstimmung zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten und verfassunggebende Versammlung statt Anschluß der DDR, DS 11/6719, 15.3. 1990. Quelle: Deutscher Bundestag
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Einigungsvertragsgesetz, BGBL 35, 28.9.1990. Mit freundlicher Genehmigung des Bundesanzeiger Verlages.
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