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ELITEN

Volkskammer 1990

Viele führende Funktionäre des SED-Regimes waren bereits im Dezember 1989 aus zentralen gesellschaftlichen Positionen verdrängt worden. Mit den Wahlen wurde die Debatte um den Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst, der DDR-Justiz sowie des Ministeriums für Staatssicherheit in der Volkskammer weitergeführt. Auch die Volkskammerabgeordneten selbst sollten auf eine frühere Zusammenarbeit mit dem MfS überprüft werden.

Der Umgang mit dem öffentlichen Dienst in der DDR

Der Umgang mit dem öffentlichen Dienst in der DDR

Auch nach den Volkskammerwahlen im März 1990 setzte der neue Ministerpräsident Lothar de Maizière eher auf Integration und nicht auf einen umfassenden Elitenwechsel. Dies hatte auch realpolitische Gründe, da im Frühjahr des Jahres 1990 unklar war, wann genau die deutsche Einheit kommen würde – bis dahin musste eine DDR-Regierung und ihr Apparat regierungsfähig bleiben. Erste Maßnahmen und Umstrukturierungen wurden im Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staats- und Verwaltungsapparate jedoch angestoßen. Immerhin beschäftigte die DDR nach Schätzungen 1989 etwa 2,25 Millionen Staatsbedienstete in Behörden, Staatsanwaltschaften und an den Gerichten, die von den während der 40-jährigen SED-Diktatur entwickelten Mechanismen der Elitenrekrutierung geprägt waren.

Am 21. Juni 1990 stellten die Fraktionen Bündnis 90/Grüne und SPD in der Volkskammer einen Antrag für ein „Gesetz über die Arbeitsrechtverhältnisse im öffentlichen Dienst und die Ausschreibung von Planstellen für leitende Bedienstete“. Da die meisten leitenden Stellen von SED-Mitgliedern oder Mitgliedern von Blockparteien besetzt waren, zielte der Entwurf auf eine Erneuerung der Verwaltungsstrukturen und den Austausch ehemaliger Kader durch unbelastete Kräfte. Nur so könne die Demokratisierung der Gesellschaft fortgesetzt werden, hieß es im Antrag. Aus diesem Grund sollten die bestehenden Arbeitsverhältnisse bis Ende des Jahres 1990 auslaufen. So könnten die zuständigen Stellen dann entscheiden, ob das Arbeitsrechtsverhältnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter Berücksichtigung einer möglichen MfS-Vergangenheit weiter bestehen solle oder nicht. Des Weiteren sollten Landrätinnen und Landräte, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und Dienstvorgesetzte staatlicher und kommunaler Verwaltungsdienststellen das Recht haben, Arbeitsstellen für leitende Bedienstete öffentlich auszuschreiben. Vertreterinnen und Vertreter der PDS lehnten diesen Entwurf ab. Auch von den anderen Parteien gab es teilweise Kritik. Es wurde dennoch mehrheitlich beschlossen, den Antrag zur Überarbeitung in den Innenausschuss zu überweisen.

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    Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Grüne und der SPD: Gesetz über die Arbeitsrechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst, DS 78, 13.6.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 33, Bl. 407-412.

Der Innenausschuss empfahl anschließend, das Gesetz nicht zu bestätigen, da er in Übereinstimmung mit dem Rechtsausschuss keinen Handlungsbedarf sah. Bereits vorhandene Gesetze und Regelungen wie das Arbeitsgesetzbuch könnten in solchen Fällen angewandt werden. Die Fraktion CDU/DA änderte und konkretisierte jedoch den Gesetzentwurf und wollte diesen in den Ausschuss zurücküberweisen. Ziel des veränderten Entwurfs war es, Leitungspositionen, explizit in Arbeitsämtern, Finanzämtern und in der Volkpolizei, neu zu besetzen und auszuschreiben. Gerade in den Finanz- und Arbeitsämtern waren Leitungspositionen unter der Regierung Modrow zwar neu besetzt worden, allerdings größtenteils mit „bewährten Genossen“, so die Begründung. Die Neubesetzung der Amtsleiter der Volkspolizei sei „eine Frage der Demokratie“. Die Rücküberweisung in den Innenausschuss wurde mehrheitlich beschlossen.

Gunter Bechstein (CDU/DA) äußerte sich in der Volkskammersitzung am 30. August 1990 zum Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst.
Quelle: Deutscher Bundestag.

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    Beschlussempfehlung des Innenausschusses: Gesetz über die Arbeitsrechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst, DS 78 a, 29.8.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 33, Bl. 413-414.

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    Ergänzung zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses: Gesetz über die Arbeitsrechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst, DS 78 b, 30.8.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 33, Bl. 415-416.

Aber auch diesen Antrag empfahl der Rechtausschuss am 6. September abzulehnen. Ein Gesetz dazu sei nicht notwendig, da die Übernahme der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes im Einigungsvertrag geregelt werde. Die Fraktion CDU/DA wandte sich gegen diese Empfehlung des Rechtsausschusses. Auch die SPD schloss sich der Meinung der Fraktion CDU/DA an. Es kam schließlich zu einer namentlichen Abstimmung. Mit 134 Stimmen lehnte die Mehrheit schließlich die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ab, 84 stimmten dafür. Damit brachte die Volkskammer zum Ausdruck, dass sie im Unterschied zur Beschlussempfehlung des Ausschusses zu dieser Angelegenheit noch einen Beschluss fassen wolle. Daher sollte der Antrag über ein Gesetz über die Arbeitsrechtverhältnisse im öffentlichen Dienst erneut in den Ausschuss überwiesen werden, um einen neuen Gesetzesentwurf zu erstellen. Dazu kam es letztendlich nicht mehr, die Regelungen fanden sich im Einigungsvertrag.

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Im Einigungsvertrag wurden dann Bestimmungen für die Überprüfung des öffentlichen Dienstes festgelegt. Grundsätzlich sollten alle Personen übernommen werden, um die Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten. Eine Entfernung politisch belasteter Personen sollte über das Arbeitsrecht, im Sinne einer „Negativ-Auslese“ erfolgen. Durch den Einigungsvertrag wurde zudem eine außerordentliche Kündigung möglich, wenn der Arbeitnehmer gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hatte oder für das MfS tätig gewesen war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erschien. Auf dieser Grundlage setzte dann nach der deutschen Einheit eine umfassende Überprüfung von Personal und Bewerbern des öffentlichen Dienstes ein, die von den neuen Bundesländern unterschiedlich gehandhabt wurde.

Betreffende Personen mussten anhand eines Fragebogens Auskunft über eine eventuelle Tätigkeit für das MfS sowie über Mitgliedschaft und Funktion in politischen Parteien oder Massenorganisationen des SED-Regimes geben. Zusätzlich erfolgte meist eine Anfrage beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU), ob Informationen über eine Tätigkeit der betreffenden Person für das MfS vorlagen. Bei etwa 6,3 Prozent der Überprüften wurde eine offizielle oder inoffizielle Tätigkeit für das MfS festgestellt. Dies führte jedoch nicht automatisch zu einer Kündigung. Weniger als die Hälfte der Personen, für die eine Tätigkeit beim MfS nachgewiesen wurde, wurde entlassen (Schätzungen zufolge ca. 42.000). Auch weil die Entlassungskriterien im Einigungsvertrag nicht näher definiert waren, wurde eine Tätigkeit für das MfS in manchen Bundesländern als „Belastung“ gewertet und in anderen führte auch eine nachgewiesene offizielle oder inoffizielle MfS-Mitarbeit nicht zu einer Kündigung. Der große Ermessensspielraum führte zu großen Unterschieden in der Entlassungspraxis.

Das Magazin „Prisma“ berichtet am 15. August 1991 über die Herausforderungen und Schwierigkeiten im Umgang mit Mitarbeitern im öffentlichen Dienst aus der DDR.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

Insgesamt kam es insbesondere auf der unteren und mittleren Ebene des öffentlichen Dienstes zu keinem großen Personalaustausch, während es auf Leitungsebene zu einem substantielleren Austausch kam. Die größten personellen Umwälzungen im öffentlichen Dienst waren allerdings nicht den Kündigungen auf Grundlage des außerordentlichen Kündigungsrechts geschuldet, sondern gingen vielmehr mit der Auflösung zahlreicher DDR-Institutionen sowie der Anpassung des DDR-Staats- und Behörden-Apparats an westdeutsche Strukturen im Zuge der deutschen Einheit einher. Grundlage der Kündigungen bildete auch hier der Einigungsvertrag, zu den Gründen gehörten: mangelnde fachliche Qualifikation, fehlende persönliche Eignung sowie mangelnder Personalbedarf wegen Auflösung oder Veränderung der Beschäftigungsstelle.

Die DDR-Justiz: ein Sonderfall

Die DDR-Justiz: ein Sonderfall

Einen Sonderfall im Umgang mit den DDR-Eliten stellte die Justiz dar. Aufgrund ihrer erheblichen Verstrickung mit dem SED-Regime unterlag sie einer besonderen Aufmerksamkeit. Die meisten Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte waren SED-Mitglieder. Auch die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte waren in der DDR in ihrer Arbeit nicht von politischen Vorgaben unabhängig. Die Umgestaltung des Rechtssystems in der DDR setzte noch während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 ein. Im Vordergrund stand zunächst die Abschaffung des politischen Strafrechtes und ein Ende der politischen Strafjustiz, das dem SED-Regime erlaubt hatte, jederzeit gegen kritische Bürger vorzugehen. Es kam jedoch erst nach den Volkskammerwahlen im März 1990 zu weitreichenden Justizreformen. Auch personelle Konsequenzen gab es zunächst kaum. Auch wenn der Zentrale Runde Tisch gefordert hatte, insbesondere die für Urteile im politischen Strafrecht Zuständigen auszutauschen.

Bald nach den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 zeichnete sich ab, dass die DDR der Bundesrepublik beitreten wird. Im Justizwesen ging es nunmehr vor allem um die Übernahme der westdeutschen Rechtsnormen in der DDR. Ein erster großer Schritt zur Rechtsanpassung erfolgte mit dem Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, der am 18. Mai 1990 unterzeichnet wurde. Darin wurde unter anderem die Anpassung des DDR-Strafrechtes an bundesdeutsches Recht verbindlich festgeschrieben. Bis zum Inkrafttreten des Vertrages am 1. Juli 1990 musste die DDR das politische Strafrecht abschaffen. Das entsprechende Gesetz wurde am 29. Juni 1990 in der Volkskammer verabschiedet.

Treppenhaus des Obersten Gerichts der DDR

Die Umgestaltung des Rechtssystems in der DDR setzte noch während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 ein. Hier zu sehen, das Oberste Gericht der DDR.

Am 31. Mai 1990 brachte der Ministerrat einen Entwurf eines Richtergesetzes in die Volkskammer ein. Bereits der Zentrale Runde Tisch hatte die Regierung Modrow aufgefordert, dringend den Entwurf eines Richtergesetzes in der Volkskammer zu erörtern, in der die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter sowie Maßnahmen zur Entfernung belasteter Richterinnen und Richter durch die Regierung festgelegt werden sollten. Ziel des Gesetzes war es, zum einen eine Richter- und Staatsanwaltschaft zu schaffen, die nicht durch undemokratische, politisch orientierte Rechtsanwendung in der Vergangenheit belastet ist, und zum anderen die Verunsicherung bei Richterinnen und Richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten über ihre weitere berufliche Tätigkeit zu beseitigen. Das Gesetz sollte das Prinzip der Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit des Richters oder der Richterin als ein entscheidendes Element des Rechtsstaates herstellen. Die Überprüfung der Richterinnen und Richter sollte ein vom Minister der Justiz einberufener parlamentarischer Richterwahlausschuss vornehmen. „Auf diese Art und Weise soll in einem gesetzlich geregelten und demokratisch legitimierten Verfahren die Aufarbeitung der Vergangenheit in der Richterschaft weiter vorangebracht werden. Etwa 1.300 Richter sollen so innerhalb von 3 Monaten überprüft werden.“, hieß es weiter.

Reinhard Nissel begründete vor der Volkskammer am 31. Mai 1990 die Notwendigkeit eines Richtergesetzes.
Quelle: Deutscher Bundestag.

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Auch wenn es an der einen oder anderen Stelle Kritikpunkte gab, wurde der Antrag mehrheitlich von allen Parteien angenommen, und der Entwurf wurde an die zuständigen Ausschüsse überwiesen. Am 5. Juli 1990 wurde das Richtergesetz dann schließlich verabschiedet. In derselben Sitzung wurde zudem ein Staatsanwaltsgesetz verabschiedet, das die Aufgaben, Befugnisse und Grenzen staatsanwaltschaftlicher Tätigkeiten regelte und die Überprüfung mit Bezug auf das Richtergesetz aller im Amt befindlichen und künftigen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte vorschrieb. Bereits am 20. Juli 1990 beantragten alle Fraktionen eine Ordnung über die Bildung und Arbeitsweise der Richterwahlausschüsse. Diese Richterausschüsse sollten nach Kriterien des Richtergesetzes prüfen, ob die Bewerberinnen und Bewerber die Befähigung für ein Richteramt besaßen. Am 22. Juli 1990 wurde der Antrag bei einigen Enthaltungen und einer Gegenstimme mit deutlicher Mehrheit in der Volkskammer angenommen. Trotz dieses Beschlusses und der seit Juli 1990 angestrebten Überprüfungen der DDR-Richter und -Richterinnen kam es vor dem 3. Oktober 1990 jedoch zu keinen Überprüfungen.

Gregor Gysi als Anwalt in Gerichtsverfahren

Der Dissident Rolf Bahro wurde am 30. Juni 1978 wegen Sammlung von Nachrichten und Geheimnisverrat zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren durch den ersten Strafsenat des Berliner Stadtgerichts verurteilt.

Personelle Konsequenzen in der DDR-Justiz hielten sich demnach insgesamt in Grenzen. Realpolitische Überlegungen der Entscheidungsträger führten dazu, dass es nicht zu einer Infragestellung der gesamten Rechtsprechung und Richterschaft kam, auch weil die Berufsgruppe der Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte auch nach dem Systemwechsel gebraucht wurde. Eine Reihe belasteter Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte hatte noch vor der deutschen Einheit mit einer neuerlichen Vorruhestandsregelung die Möglichkeit, den Justizdienst von sich aus finanziell abgesichert und unkompliziert zu verlassen. Mit dem Rechtsanwaltsgesetz, das von der Volkskammer am 13. September 1990 beschlossen wurde, wurde wenige Wochen vor dem Ende der DDR allen Juristinnen und Juristen im Staatsdienst zudem die Möglichkeit gegeben, eine Zulassung als Rechtsanwältin bzw. Rechtsanwalt zu beantragen. Diese Zulassung besaß dann auch im vereinten Deutschland ihre Gültigkeit. Von dieser Möglichkeit wurde rege Gebrauch gemacht: noch in den Abendstunden des 2. Oktober 1990 wurden zahllose Anträge auf Anwaltszulassungen genehmigt.

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Die Überprüfung der politischen Vergangenheit der Juristinnen und Juristen ging mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik an die neuen Länder über, die dann viele Jahre mit der Prüfung beschäftigt waren. Die neuen Länder setzten sogleich die in der Volkskammer vorbereiteten Richterwahlausschüsse ein, die die persönliche Eignung derjenigen, die sich für eine Neueinstellung beworben hatten, überprüften. Insgesamt wurde über ein Drittel, 1.080 von ursprünglich 3.018 der DDR-Richterinnen und -Richter sowie der DDR-Staatsanwältinnen und -Staatsanwälte, in den bundesdeutschen Justizdienst übernommen. Die Prüfkriterien unterschieden sich allerdings auch hier von Bundesland zu Bundesland erheblich und führten zu unterschiedlichen Weiterbeschäftigungsquoten der Richterinnen und Richter (Berlin: 11,1 Prozent, Brandenburg: 44,9 Prozent, im Beitrittsgebiet durchschnittlich 38,3 Prozent) und der erneut eingestellten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte (Berlin: 4,0 Prozent, Brandenburg: 55,4 Prozent, im Beitrittsgebiet durchschnittlich 32,2 Prozent).

Das Magazin „Alles, was Recht ist“ berichtete am 15. November 1990 über die Schwierigkeiten im Umgang mit den DDR-Eliten in der Justiz nach der deutschen Einheit.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

Der Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MfS

Der Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MfS

Im Zuge der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit gelang es bis Ende März 1990 fast alle der etwa 91.000 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS/AfNS zu entlassen, oder sie in andere staatliche Institutionen zu übernehmen. Bereits seit dem Herbst 1989 gab es erregte Debatten über das Problem von Rentenzahlungen für ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS. Neben gesonderten Regelungen zur vorzeitigen Berentung beschloss die Regierung Modrow im Dezember 1989 zudem sogenannte Überbrückungsgelder und Ausgleichszahlungen, die an ausscheidende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS/AfNS im Zuge des Auflösungsprozesses gingen bzw. gehen sollten. Der Runde Tisch konnte im Januar 1990 diese Zahlungen publik machen. Dies führte zu Protesten, denen sich die Regierung Modrow schließlich beugte und die Auszahlung der Überbrückungsgelder und Ausgleichszahlungen beendete. Das gesonderte Rentensystem für die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS, welches diesen eine für DDR-Verhältnisse großzügig bemessene Altersversorgung zusicherte, blieb jedoch zunächst bestehen.

"Demonstration gegen Stasi und Nasi" vor der Zentrale des Amtes für Nationale Sicherheit

Demonstranten hatten bereits am 15. Januar 1990 im Zuge der Besetzung der MfS-Zentrale gegen die Überbrückungszahlungen der MfS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter protestiert.

Am 15. Juni 1990 stellte der Ministerrat in der Volkskammer einen Antrag für ein Gesetz zur Aufhebung der Versorgungsordnung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit. Mit diesem Gesetz sollte die Versorgungsordnung des ehemaligen MfS/AfNS zum 30. Juni 1990 aufgehoben werden und stattdessen Renten der Sozialpflichtversicherung wie für alle anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer festgesetzt werden. Damit sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass gerade diese ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das Leid und die damit verbundenen Schäden mit verantwortlich gewesen seien.

Am 29. Juni 1990 beschloss die Volkskammer schließlich bei sieben Gegenstimmen und einer Enthaltung das „Gesetz über die Aufhebung der Versorgungsordnung des ehemaligen MfS/AfNS“. Damit hob sie das gesonderte Rentensystem des MfS auf und legte die Obergrenze der Rentenansprüche auf 990 Mark fest. Der Deutsche Bundestag begrenzte die Rente zum 1. August 1991 auf 802 DM.

  • „Unsere Bevölkerung äußert mit Recht ihren Unmut darüber, daß bis zum heutigen Tag die noch bestehende Versorgungsordnung des ehemaligen MfS nicht aufgehoben ist. Dieses wird, wenn sie dem Gesetz Ihre Zustimmung geben, heute nun endlich geschehen.“

    Thomas Brick (Berichterstatter des Ausschusses für Arbeit und Soziales),
    Volkskammer 10/19, 29.6.1990, S. 765.

Der Berichterstatter des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Thomas Brick, stellte am 29. Juni 1990 das „Gesetz über die Aufhebung der Versorgungsordnung des ehemaligen MfS/AfNS“ in der Volkskammer vor.
Quelle: Deutscher Bundestag.

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    Antrag des Ministerrates: Gesetz über die Aufhebung der Versorgungsordnung des ehemaligen MfS/AfNS, DS 63, 13.6.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 32, Bl. 491-494.

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    Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales: Gesetz über die Aufhebung der Versorgungsordnung des ehemaligen MfS/AfNS,  DS 63 a, 13.6.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 32, Bl. 495-498.

Die „Offiziere im besonderen Einsatz“

Die „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE)

Im Juni 1990 wurde die Existenz der „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE) bekannt. Die OibE waren hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS, die unter Verheimlichung ihres tatsächlichen Dienstverhältnisses in sicherheitspolitisch relevanten Positionen im Staatsapparat, in der Volkswirtschaft, in Wissenschaft und Hochschulen oder in anderen Bereichen der Gesellschaft eingesetzt wurden. Der im Juni 1990 von der Volkskammer eingesetzte Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS erhielt daraufhin die Aufgabe, die bis dahin unentdeckten „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE), die nach wie vor an leitenden Stellen in Staat und Wirtschaft tätig waren, ausfindig zu machen und ihre Entlassung zu erreichen. Der Sonderausschuss erstellte im Juli 1990 anhand der Besoldungsstammkartenkartei des MfS, die über eine eventuelle Tätigkeit als OibE Auskunft geben konnte, Listen mit den Namen dieser Offiziere. Die Listen waren quantitativ und qualitativ sehr mangelhaft. Der Ausschuss versuchte daher weiter zu recherchieren und herauszufinden, wo diese OibE tätig gewesen waren.

Die „Aktuelle Kamera“ berichtete am 18. Juli 1990 über die Existenz der „Offiziere im besonderen Einsatz“ und die Arbeit des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS.
Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

Es konnte nachgewiesen werden, dass OibE weiterhin an zentralen Stellen im öffentlichen Leben eine Rolle spielten: u. a. bei der Kriminalpolizei, im internationalen Pressezentrum, im Postministerium, im Außen- und Verkehrsministerium, an der Humboldt-Universität, der Akademie der Wissenschaften, im Ministerium für Wissenschaft und Technik, beim Ministerrat und im Innenministerium. Auch der Büroleiter des staatlichen „Komitees zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS“, Dieter Stein, konnte als OibE enttarnt werden, was Innenminister Peter-Michael Diestel in Bedrängnis brachte, unter dessen Verantwortung das Komitee agierte. Der Innenminister hatte trotz Hinweisen aus dem Sonderausschuss zunächst keine Überprüfung seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter veranlasst. Einige Volkskammerabgeordneten stellten am 13. September 1990 daraufhin den Antrag, Innenminister Diestel wegen Unfähigkeit bei der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes abzuberufen. Der Antrag wurde abgelehnt, doch Ministerpräsident Lothar de Maizière entzog daraufhin Diestel die direkte Zuständigkeit bei der Auflösung des MfS/AfNS und übertrug sie dem Staatssekretär im MdI Eberhard Stief.

Joachim Gauck (Bündnis 90/Grüne) äußerte sich in der Volkskammer am 13. September 1990 zur Arbeitsweise des Innenminister Diestels.
Quelle: Deutscher Bundestag.

Am 23. August 1990 beantragte die DSU-Fraktion, möglichst umgehend gesetzliche Voraussetzungen zu schaffen, die die Entlassung der ehemaligen MfS-Angehörigen aus dem öffentlichen Dienst ermöglichen sollte. Dieser Antrag zielte insbesondere darauf ab, „Offiziere im besonderen Einsatz“ noch vor Herstellung der deutschen Einheit aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Zudem sollte damit verhindert werden, dass verdeckte ehemalige MfS-Angehörige und ihre Befehlsgeber aus den Reihen der SED durch bis heute bestehende Seilschaften mit öffentlichen Ämtern „belohnt“ werden. Diese Angst war nicht unbegründet, zahlreiche MfS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sowie Angehörige der Kadernomenklatur wurden im Jahr 1990 in DDR-Behörden unter Verschleierung ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn mit dem Ziel einer dauerhaften Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst „versteckt“. Die Volkskammer beschloss einstimmig, dass der Antrag an den Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS und zur Mitberatung an den Innenausschuss und Rechtsausschuss überwiesen wird. Der Sonderausschuss empfahl in der darauffolgenden Sitzung am 24. August schließlich, dass der Ministerrat nicht zur Erarbeitung eines Gesetzes beauftragt werden sollte. Für die Durchsetzung der Zielsetzung des Antrages der DSU könne sich auf das geltende Recht, insbesondere das Arbeitsgesetzbuches, berufen werden. Die Beschlussempfehlung wurde bei einigen Stimmenthaltungen angenommen.

  • „Insbesondere in den leitenden Stellungen im öffentlichen Dienst kann es nur Bedienstete geben, die nicht für das Unrecht der Vergangenheit haftbar gemacht werden können und bei denen es keinen Zweifel an ihrer Loyalität zu einem neuen, zu einem demokratischen Staat gibt.“

    Ralf Geisthardt (CDU/DA),
    Volkskammer, 10/31, 23.8.1990, S. 1430.

Auch wenn es zu keiner spezifischen gesetzlichen Regelung kam, versuchte der Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS die OibE vor allem aus höheren Positionen zu entfernen. So führten die Abgeordneten des Ausschusses mit den Betroffenen Gespräche oder auch mit der jeweils personalführenden Stelle, um so zu einer Kündigung bzw. Entlassung zu kommen. Auch die Ministerien wurden gebeten, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch den Sonderausschuss überprüfen zu lassen, um ehemalige OibE zu finden. Diese Überprüfung fand dann in den kommenden Monaten zum größten Teil statt. Viele der Offiziere im besonderen Einsatz schafften trotzdem den Übergang ins wiedervereinigte Deutschland und blieben zunächst auch weiterhin unerkannt auf ihren Posten. Erst im März 1991 wurden neue Gehaltslisten von hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern veröffentlicht, darunter auch der ObiE. Im selben Monat veröffentlichte die Tageszeitung „taz“ zudem eine Liste mit OibE. Zwar waren auch auf dieser Liste nicht alle enthalten, aber die meisten hatten nun endgültig ihre Tarnung verloren und konnten nun ggf. aus ihren Beschäftigungsverhältnisses entfernt werden.

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Die Überprüfung der Volkskammerabgeordneten

Die Überprüfung der Volkskammer-abgeordneten auf MfS-Vergangenheit

Kurz vor den Volkskammerwahlen im März 1990 entfachten spektakuläre Enthüllungen aus den Stasi-Unterlagen, wie zum Beispiel um Ibrahim Böhme oder Wolfgang Schnur, eine lebhafte Debatte über die Integrität der neuen politischen Akteure. Mitglieder des Erfurter Bürgerkomitees entdeckten am 16. März in den Stasi-Akten Hinweise auf weitere MfS-Informanten unter den Volkskammerkandidatinnen und -kandidaten. Diese Enthüllungen nährten allgemeine Zweifel daran, inwiefern die neu gewählten Volkskammerabgeordneten und Regierungsmitglieder vertrauenswürdig sind.

Vor der konstituierenden Sitzung der neugewählten Volkskammer bot der Regierungsbevollmächtigte zur Auflösung des MfS/AfNS Werner Fischer von der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) daher an, alle Volksvertreterinnen und -vertreter zu überprüfen. Sowohl Hans-Jürgen Joseph, Generalstaatsanwalt unter der Regierung Modrow, wie auch das Präsidium der Ost-CDU sträubten sich jedoch gegen diesen Vorschlag. Aus Westdeutschland kam der Vorschlag des parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Friedrich Bohl, die Zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle in Salzgitter mit der Überprüfung zu beauftragen; diesem Vorschlag widersprach Hans Modrow heftig. Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley, Wolfgang Templin und Werner Fischer forderten hingegen eine Überprüfung aller Volkskammerabgeordneten durch einen Sonderausschuss der Volkskammer. Sie wurden hierin durch Demonstrationen in vielen Städten der DDR und einem Hungerstreik des Erfurter Bürgerkomitees unterstützt. Bereits in der letzten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 12. März 1990 war ein Antrag gestellt worden, in dem gefordert wurde, die neugewählten Abgeordneten der Volkskammer auf ihre MfS-Vergangenheit zu überprüfen.

  • „Keine Stasifraktion in der Volkskammer“ forderten Tausende Berliner am 29. März 1990 auf einer Bündnis 90 und Grüner Partei initiierten Demo vom Alexanderplatz zum Palast der Republik. Die Demonstranten setzten sich für die Überprüfung aller Abgeordneten auf eine mögliche Tätigkeit für das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit ein.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0329-028/Klaus Oberst.

  • In einen unbefristeten Hungerstreik traten Ende März 1990 drei Mitglieder des Erfurter Bürgerkomitees. Sie wollten damit auf ihre Forderung nach einer Überprüfung von Volkskammerangeordneten aufmerksam machen.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0328-029/Jürgen Ludwig.

  • Im März 1990 veröffentlichte „Der Spiegel“ Enthüllungen über Wolfgang Schnurs langjährige Spitzeltätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs (DA) trat daraufhin zurück.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0309-018/Thomas Uhlemann.

  • Neben der Überprüfung der Abgeordneten forderten die Demonstranten am 29. März 1990 auch, dass die Staatsanwälte und Richter auf eine mögliche Tätigkeit für das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit überprüft werden.
    Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0329-030/Klaus Oberst.

Vor dem Hintergrund dieser Debatte beschloss die Volkskammer auf ihrer konstituierenden Sitzung am 5. April 1990 die Einsetzung eines „Zeitweiligen Prüfungsausschusses“, der die Abgeordneten der Volkskammer auf eine frühere Zusammenarbeit mit dem MfS überprüfen sollte. Der Antrag aller Fraktionen über die Aufgabenstellung des „Zeitweiligen Prüfungsausschusses“ der Volkskammer der DDR wurde mit großer Mehrheit bei zwei Enthaltungen am 12. April angenommen. Die Regierungsbevollmächtigten zur Auflösung des MfS/AfNS hatten sich mit den Volkskammerfraktionen über ein vorläufiges Prüfungsverfahren bereits Ende März verständigt. Nachdem die Abgeordneten aller Fraktionen, darunter mit einiger Verzögerung auch diejenigen der CDU, ihre Zustimmung gegeben hatten, überprüften die Regierungsbevollmächtigten in einer ersten Durchsicht gemeinsam mit einigen Vertrauenspersonen anhand der zentralen Personenkarteien, welche Abgeordneten vom MfS als Inoffizielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (IM) geführt worden waren. Nach dem Beschluss der Volkskammer vom 12. April 1990 sollte der „Zeitweilige Prüfungsausschuss“ die Akten der bei der ersten Durchsicht der Karteien belasteten Abgeordneten einsehen und ihnen gegebenenfalls den Rücktritt empfehlen. Der Abschlussbericht des Ausschusses an das Präsidium der Volkskammer sollte jedoch keine namentlichen Nennungen enthalten. Aufgrund der umfangreichen Aktenlage und der sensiblen Thematik gestaltete sich die Arbeit des Ausschusses allerdings als schwierig und zeitaufwendig. Der Abschlussbericht lag der Volkskammer erst am 28. September 1990 vor.

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Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl machte auf die Wichtigkeit eines Prüfungsausschusses zur Überprüfung der Abgeordneten der Volkskammer in der ersten Sitzung am 5. April 1990 aufmerksam.
Quelle: Deutscher Bundestag.

In diesem Bericht wurden auch die Gründe für die Verzögerungen dargelegt. Eigentlich war der Beginn der Einsicht in die MfS-Akten und Unterlagen bereits am 6. Juni vorgesehen. Dies wurde aber erst am 5. September möglich, die letzte Akteneinsicht erfolgte am 26. September. Verzögerungen ergaben sich u. a. aufgrund von Diskussionen um den richtigen Verfahrensweg bei der Überprüfung, die Frage der einzuhaltenden Sorgfalt in Bezug auf den Personendatenschutz, aber auch aufgrund von Verzögerungen in den Fraktionen sowie durch einzelne Personen, bei denen die schriftlichen Erklärungen fehlten sowie Verzögerungen beim Auffinden der Akten in den jeweiligen Stellen der Bezirke. Laut Abschlussbericht standen nach der ersten Überprüfung 67 Abgeordnete sowie Ministerinnen und Minister im Verdacht einer MfS-Tätigkeit. Von diesen 67 wurden tatsächlich 56 in der Zentralkartei des MfS als ehemalige und zum Teil bis zuletzt tätige informelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geführt. Von diesen 56 Personen stellten sich nach Akteneinsicht 15 Fälle so dar, dass eine dringende Empfehlung zur sofortigen Mandatsniederlegung bzw. zum sofortigen Rücktritt ausgesprochen wurde. In 22 Fällen waren Akten vernichtet, nicht auffindbar bzw. nicht vollständig. Die Volkskammerabgeordneten kritisierten die Verzögerung bei der Überprüfung und sprachen ihr Bedauern aus, dass die Überprüfung nicht direkt in den ersten Wochen nach den Volkskammerwahlen erfolgt war.

Anfang September 1990 diskutierten die Volkskammerabgeordneten über die Entsendung von 144 Abgeordneten der Volkskammer in den 11. Deutschen Bundestag. Diese Parlamentarier sollten die Menschen der DDR vom Tag der deutschen Einheit bis zur Wahl eines neuen gesamtdeutschen Parlaments im Dezember 1990 vertreten. In einem Antrag von mehr als 20 Abgeordneten wurde gefordert, dass nur diejenigen Volkskammerabgeordneten in den Deutschen Bundestag entsandt werden dürften, die nicht für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet haben. Der Antrag wurde schließlich in modifizierter und differenzierter Form am 13. September mehrheitlich beschlossen. Dadurch kamen die Diskussionen um die Arbeit des „Zeitweiligen Prüfungsausschuss“ wieder auf die Tagesordnung.

Bernhardt Opitz (F.D.P.) kritisierte in seinem Redebeitrag am 6. September 1990 die Verzögerungen des Prüfungsausschusses zur Überprüfung der Abgeordneten der Volkskammer und forderte, dass diese vor Entsendung in den Deutschen Bundestag überprüft werden müssten.
Quelle: Deutscher Bundestag.

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    Antrag mehrerer Abgeordneter: Aktenprüfung der Abgeordneten zur Entsendung in den Deutschen Bundestag, DS 220, 30.8.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 36, Bl. 499.

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    Beschlussempfehlung des Zeitweiligen Prüfungsausschusses: Aktenprüfung der Abgeordneten zur Entsendung in den Deutschen Bundestag, DS 220 a, 13.9.1990. Quelle: BArch DA 1/BA: 11299, Bd. 36, Bl. 500-501.

  • „Dieses Problem ist ausgesprochen ärgerlich – die Überprüfung der Abgeordneten. […] ich halte auch für sehr schlimm und sehr belastend, daß bis heute den Abgeordneten die Einsicht in ihre Akten verwehrt wird. Diese Haltung ist mir unverständlich, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß z. B. meine Daten gegen mich geschützt werden müssen. Eine solche Haltung schützt die Täter und gefährdet die Opfer.“

    Bernhard Opitz (F.D.P.),
    Volkskammer, 10/35, 13.9.1990, S. 1595.

Kurz bevor der „Zeitweilige Prüfungsausschuss“ seinen Abschlussbericht vorlegen wollte, stellte die Fraktion Bündnis 90/Grüne am 20. September 1990 den Antrag, der „Zeitweilige Prüfungsausschuss“ möge die Namen aller Abgeordneten nennen, denen die Niederlegung ihres Mandats empfohlen werde. Gerd Poppe (Bündnis 90/Grüne) führte zur Begründung an, eine weitere Beschädigung des Ansehens des Parlamentes könne nur vermieden werden, wenn die MfS-Verstrickungen von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten offengelegt werden würden. Während die Abgeordneten Thomas von Ryssel (F.D.P.), Gregor Gysi (PDS) und Wolfgang Thierse (SPD) diesem Vorschlag von Gerd Poppe zustimmten, kritisierte Ralph Geisthardt von der Fraktion CDU/DA dieses Verfahren: „Und wenn Sie hier Namen öffentlich nennen, können Sie den Leuten auch gleich einen Strick um den Hals mitgeben.“

  • Thomas von Ryssel (F.D.P.) plädierte in seinem Redebeitrag am 20. September 1990, die Namen aller Abgeordneten zu nennen, denen die Niederlegung ihres Mandats empfohlen wurde, um die anderen Abgeordneten vor Anfeindungen zu schützen.
    Quelle: Deutscher Bundestag.

  • Ralf Geisthardt (CDU/DA) warnte in seinem Redebeitrag am 20. September 1990 davor die Namen der Abgeordneten, denen die Niederlegung ihres Mandats empfohlen wurde, öffentlich zu nennen, denn damit würde „Lynchjustiz“ begünstigt.
    Quelle: Deutscher Bundestag.

Der Antrag wurde an den Prüfungsausschuss zur Beratung überwiesen, der seine Ablehnung empfahl. In der Sitzung der Volkskammer am 28. September begründete der Vorsitzende des „Zeitweiligen Prüfungsausschusses“ Peter Hildebrand die Entscheidung, indem er darauf verwies, dass der Ausschuss sich an die Entscheidung der Volkskammer vom 12. April gebunden fühle, die Namen der Abgeordneten nicht zu veröffentlichen. Alle Abgeordneten hätten ihr Einverständnis für ihre Überprüfung unter dieser Voraussetzung gegeben. Auch bedeute die Bekanntgabe der Belasteten keine Entlastung für die übrigen Abgeordneten. Die Akten des MfS befänden sich in so großer Unordnung, dass niemandem bescheinigt werden könne, dass es über ihn keine belastende Akte gebe.

Daraufhin kam es zu einer lebhaften, zeitweise tumultartigen Debatte um die Veröffentlichung und Nennung der Namen der belasteten Abgeordneten in der Volkskammer. Die Volkskammer beschloss zunächst, dass die Namen verlesen werden sollten. Dieser Beschluss sollte auf Initiative der Fraktion CDU/DA daraufhin nochmals auf Rechtmäßigkeit durch den Verfassungsausschuss überprüft werden. Abgeordnete der Fraktionen Bündnis 90/Grüne und SPD belagerten daraufhin u. a. den Raum vor dem Präsidium und setzten sich aus Protest auf den Fußboden. Die Namen der belasteten Abgeordneten wurden schließlich in der Volkskammer verlesen. Die Fraktion CDU/DA konnte dennoch erreichen, dass dies nur in einer nichtöffentlichen Sitzung geschah. Während und nach der Debatte kam es zu persönlichen Erklärungen und Rücktrittserklärungen von belasteten Abgeordneten sowie Ministerinnen und Ministern. Der Antrag des Abgeordneten Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne), wenigstens die Namen der fünfzehn am schwersten belasteten Abgeordneten der Öffentlichkeit bekanntzugeben, wurde abgelehnt, obwohl die Abgeordneten wussten, dass bereits Namenslisten unter den wartenden Journalisten kursierten. Eine Veröffentlichung konnte die Volkskammer mit diesem Verfahren nicht verhindern: Bereits wenige Tage später waren die Namen aller belasteten Abgeordneten der Presse zu entnehmen.

Marianne Birthler erinnert sich an die tumultartige Volkskammersitzung als die Namen der mit der MfS-Vergangenheit belasteten Abgeordneten genannt werden sollten.
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung 2022.

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