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TÄTER

Bundestag 1990 – 1992

Immer wieder wurde im Bundestag von Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen politischen Kräfte betont, dass diejenigen Personen, die während der SED-Diktatur Schuld auf sich geladen hatten, im vereinten Deutschland zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Auf welcher gesetzlichen Grundlage konnte die Strafverfolgung aufbauen? Können Verbrechen, die während einer Diktatur vom Staat ausgingen, unter rechtsstaatlichen Verhältnissen überhaupt geahndet werden?

  • „Gerade denjenigen, die an höchster Stelle Verantwortung getragen haben, Unrecht begangen haben, sich bereichert haben, an deren Händen eventuell sogar Blut klebt, muß nun der rechtsstaatsmäßige Prozeß gemacht werden. […] Dies verlangt der Rechtsstaat; dies sind wir auch den zahllosen Opfern des Unrechtsregimes schuldig. Es geht nicht um Rache und Vergeltung, sondern es geht ganz einfach um Gerechtigkeit.“

    Klaus Kinkel (Bundesminister der Justiz),
    Deutscher Bundestag, 12/14, 13.3.1991, S. 854.
  • „Es ist eine ganz wichtige Sache, daß wir hier zu Ergebnissen kommen und nicht bei den Leuten in den neuen Bundesländern Enttäuschungen schaffen, die mit zitternden Knien eine friedliche Revolution herbeigeführt haben und jetzt erwarten, daß Schuldige endlich zur Verantwortung gezogen werden.“

    Johannes Gerster (CDU/CSU),
    Deutscher Bundestag 12/67, 12.12.1991, S. 5786.
Das strafrechtliche Instrumentarium nach dem Einigungsvertrag

Das strafrechtliche Instrumentarium nach dem Einigungsvertrag

Im Grundgesetz unter Artikel 103 [Grundrechte vor Gericht] heißt es unter Absatz 2:

„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“

Im Strafgesetzbuch (StGB) heißt es in § 2:

„(1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. […] (3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.“

Der Einigungsvertrag bestätigte die Geltung des §2 des StGB für die Ahndung der Regierungskriminalität der ehemaligen DDR.

Dies hieß konkret für die Strafverfolgung der Regierungskriminalität der DDR, dass zunächst geprüft werden musste, ob eine Tat sowohl nach dem bestehenden bundesdeutschen Recht als auch nach DDR-Recht (dem zur Tatzeit geltenden Recht) strafbar war. Wenn das der Fall war, musste das mildeste (für den Täter oder die Täterin günstigste) Recht zur Bestrafung angewandt werden.

Wenn die Tat jedoch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht – also dem DDR-Recht – nicht strafbar war, konnte die betreffenden Person im vereinten Deutschland nicht bestraft werden.

Der Einigungsvertrag regelte auch Verjährungsfristen, die ab dem 3. Oktober 1990 ausgesetzt wurden. Taten, die nach DDR-Recht bereits verjährt waren, konnten rückwirkend nicht verfolgt werden.

Die strafrechtliche Aufarbeitung – also die Anwendung der Gesetze zur Verfolgung der in der DDR von staatlicher Seite geschehenen Straftaten – war im Sinne der Gewaltenteilung Aufgabe der Judikative. Daher fanden im Bundestag (der Legislative) zu vielen Themen nur Einschätzungen statt und es kam nur zu wenigen Gesetzgebungsverfahren und konkreten Debatten.

  • „Da das Unrecht ein ganzes System erfaßt hat, ist seine Bewältigung für die Justiz eine riesige Aufgabe, die sie nur schwer und zum Teil wohl auch gar nicht zu erfüllen in der Lage ist. Unsere ganze Gesellschaft muß sich der Bewältigung des DDR-Unrechts stellen und sich dieser Frage bewußt werden.“

    Klaus Kinkel (Bundesminister der Justiz),
    Deutscher Bundestag 12/26, 4.6.1991, S. 1912.
  • „Wir müssen uns fragen, ob unser Strafrecht zur Bewältigung dieser Art Kriminalität überhaupt geeignet ist.“

    Klaus Kinkel (Bundesminister der Justiz),
    Deutscher Bundestag 12/26, 4.6.1991, S. 1912.
  • „Die Justiz muß wenigstens alles versucht haben, um individuelle Schuld zu erkennen, zu verfolgen, vor Gericht zu bringen und sie dort zu bestrafen. Meine Bitte ist deshalb, nicht zu früh damit anzufangen, über die Grenzen der Strafjustiz nachzudenken. Das müßte die Akzeptanz unseres Rechtsstaates bei den Opfern eher behindern.“

    Herta Däubler-Gmelin (SPD),
    Deutscher Bundestag, 12/26, 4.6.1991, S. 1914.
  • „Ich mache mir zunehmend Sorgen, weil ich das Gefühl habe, daß die Menschen in den neuen und in den alten Ländern zuviel von unserem Rechtssystem und vor allem von unserem Strafrecht erwarten. Es gibt eine Fülle von tatsächlichen Problemen, warum die Aufarbeitung speziell im Zusammenhang mit der Regierungskriminalität so wahnsinnig langsam und schwierig vor sich geht.“

    Klaus Kinkel (Bundesminister der Justiz),
    Deutscher Bundestag, 12/26, 4.6.1991, S. 1912.
Schwierigkeiten der strafrechtlichen Aufarbeitung

Die Schwierigkeiten bei der strafrechtlichen Aufarbeitung des
SED-Unrechts

Über die Schwierigkeiten, mit Mitteln des Rechtsstaats die Verbrechen einer Diktatur aufzuarbeiten, sprach Bundesjustizminister Klaus Kinkel innerhalb der Haushaltsdebatte am 4. Juni 1991. Er schilderte vier Kernprobleme der strafrechtlichen Aufarbeitung. Erstens seien die Täter der SED-Diktatur alt und „durch die friedliche Revolution, die sie bis heute nicht begriffen haben, verstört und verwirrt“. Zweitens sei die DDR ein „bürokratischer Staat, wie man ihn wohl kein zweites Mal finden wird“ gewesen. Das habe zur Folge, dass die Strafverfolgungsbehörden vor einem Berg von Akten stünden und erst einmal sichten müssten, was relevant und was irrelevant für ihre Arbeit sei. Drittens sei das Politbüro – als Zentrum des SED-Staats – ein Kollektiv gewesen, in dem sich „jeder hinter jedem versteckt“ habe. Viertens sei die „Handlungskette“ bei der Regierungskriminalität äußerst lang: „[…] vom Schießbefehl im Polit-Büro über die verwickelten Instanzen von Partei und Nationaler Volksarmee bis hin zum tödlichen Schuß an der Grenze ist ein sehr weiter Weg. Soll der Anweisende für den Tod des Opfers verantwortlich gemacht werden, muß aber […] die Kausalität der Anweisung bewiesen werden. Nichts darf dazwischen sein: keine andere Kausalität, keine andere entscheidende Verantwortlichkeit, kein Exzeß eines der vielen Zwischenträger.“

Das Strafrecht sei, so Kinkel, darauf ausgelegt, die „individuelle Auflehnung gegen die bestehende Rechtsordnung“ zu ahnden. Es setze einen rechtsstaatlichen Rahmen voraus: „Erst wenn das Recht den Rahmen gibt, ist das Unrecht als aus dem Rahmen fallend konkretisierbar. In der DDR lagen die Dinge ganz anders: Ein ganzer Staat hatte sich in weiten Bereichen vom Recht abgekoppelt. In der DDR war die Abweichung vom Recht nicht der konkretisierbare Einzelfall, sondern vielfach die politisch gewünschte Normalität. […] Ich frage mich deshalb, ob es möglich ist, mit unserem Wert- und Rechtssystem die Ereignisse in der DDR zu erfassen und aufzuarbeiten. Unser Rechtssystem ist auf den Einzelfall zugeschnitten, nicht aber auf die Kriminalität eines Staates.“

Kinkel sah in der „Bewältigung des Unrechtsstaates […] eine Aufgabe, die weit über das Strafrecht hinausreicht.“ Um eine Lösung für diese politische und gesellschaftliche Aufgabe zu finden, initiierte er im Juli 1991 ein Forum mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Fachrichtungen (neben der Justiz beispielsweise auch der Geschichtswissenschaft und der Philosophie). Nach einem Bericht der taz kamen die Diskussionen in dem von Kinkel organisierten Forum einer Kapitulation gleich. Die Mehrzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer habe die Auffassung vertreten, dass das Strafrecht zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht in der Lage sei.

Bundesjustizminister Klaus Kinkel spricht am 4.6.1991 über die Schwierigkeiten der strafrechtlichen Aufarbeitung des SED-Unrechts. Quelle: Deutscher Bundestag

  • „Soweit […] der Staatssicherheitsdienst den Terrorismus gefördert, die Menschenrechte verletzt und ein System von Dauerüberwachung, Bespitzelung, Zwangstrennung von Familien, Berufsverboten und auch Pressionen ausgeübt hat, denke ich, ist es auch unsere Aufgabe, deutlich zu machen, daß wir die Stasi als verbrecherische Organisation zu brandmarken haben.“

    Hartmut Büttner (CDU/CSU),
    Deutscher Bundestag, 12/21, 18.4.1991, S. 1317 AB.
  • „Sind Sie sich bewußt, daß sich der Ausdruck ‚verbrecherische Organisation‘ auf eine Organisation bezog, die an der Auslösung des Z[w]eiten Weltkrieges teilnahm, die verantwortlich ist für die Ermordung von 6 Millionen, für den Holocaust?“

    Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste),
    Deutscher Bundestag, 12/21, 18.4.1991, S. 1317 C.
Die Staatssicherheit – eine „verbrecherische Organisation“?

Die Staatssicherheit – eine „verbrecherische Organisation“?

Die von Klaus Kinkel in der Plenarsitzung vom 4. Juni 1991 geschilderten Probleme befeuerten im Bundestag eine Diskussion hinsichtlich der Bezeichnung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des Zentralkomitees (ZK) der SED als „verbrecherische Organisationen“. Was hatte es mit diesem Begriff auf sich? Als „verbrecherische Organisation“ wurden 1946 in den Nürnberger Prozessen bestimmte nationalsozialistische Vereinigungen, wie beispielsweise die SS oder die Gestapo, deklariert. Wenn einer Person, die Mitglied in einer als verbrecherisch eingestuften Organisation war, der Prozess gemacht wird, so ist der verbrecherische Charakter der Organisation bereits bewiesen und es muss lediglich der Grad der Aktivität des oder der Angeklagten innerhalb der Organisation bewiesen werden. Diese Regelung galt nur in den von den Alliierten durchgeführten Nürnberger Prozessen, sie wurde in der Bundesrepublik zur Ahndung von NS-Verbrechen nicht angewandt.

Die Idee, die Regelung für die strafrechtliche Ahndung von SED-Unrecht einzusetzen, stammte von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Die Gruppe hatte in ihrem Antrag vom 20. März 1991 hinsichtlich einer gesetzlichen Regelungen für die Stasi-Unterlagen und der staatsbezogenen Akten der SED, Blockparteien und Massenorganisationen erstmals das MfS als „verbrecherische Organisation“ bezeichnet. Bereits in der ersten Beratung dieses Antrags erklärte Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste) die Bezeichnung für unzulässig, da sie die nationalsozialistischen Verbrechen bagatellisiere. Vertreter der CDU/CSU sahen in der Sitzung vom 18. April 1991 kein Hindernis zur Bezeichnung des MfS als „verbrecherische Organisation“ und bedienten sich in Zwischenrufen und Redebeiträgen ebenfalls dieses Begriffs.

In der Plenardebatte am 4. Juni 1991 stellte Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Frage an den Bundesjustizminister Klaus Kinkel, ob durch die Erklärung des MfS und des ZK zu verbrecherischen Organisationen die Möglichkeit geschaffen werden könnte, „daß diese Menschen [Mitglieder des MfS und des ZK] von sich aus nachweisen müssen, daß sie nicht Unrecht getan haben, daß aber nicht der Staat in Beweispflicht genommen wird und daß es nicht dazu kommen wird, wie wir es oftmals erleben, daß Täter unbehelligt davonkommen.“ Dieser Vorschlag wurde von Klaus Kinkel abgelehnt, da dadurch vielfältige weitere Schwierigkeiten auftreten könnten. Es hätten zu diesem Zeitpunkt, so Kinkel, bereits umfangreiche Diskussion im Bundesjustizministerium zu diesem Thema stattgefunden. Burkhard Hirsch (FDP), der im April 1991 die Diskussion um die Verwendung des Begriffs der „verbrecherischen Organisation“ noch als „müßig“ bezeichnet hatte, plädierte in der Plenarsitzung am 13. Juni 1991 dafür, „den Gedanken der individuellen Schuld“ nicht aufzugeben. Der Begriff der „verbrecherischen Organisation“ stehe in einem „Spannungsverhältnis zu vielen traditionellen Werten unseres Rechtssystems […], nämlich zur individuellen Verantwortung, zu dem Grundsatz, daß es keine Bestrafung nach einem Gesetz geben darf, das es zur Zeit der Tat nicht gegeben hat, und zu dem Grundsatz, daß der Staat das Verschulden des Bürgers nachzuweisen hat und nicht der Bürger seine Unschuld.“

Die Diskussion um den Begriff der „verbrecherischen Organisation“ wurde ab Juni 1991 nicht weiterverfolgt.

  • Konrad Weiß (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) schlägt vor, den Staatssicherheitsdienst und das Zentralkomitee der SED als „verbrecherische Organisationen“ zu erklären, um so die strafrechtliche Aufarbeitung zu erleichtern. Bundesjustizminister Klaus Kinkel lehnt das ab. Bundestagsrede vom 4.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste) lehnt die Bezeichnung des Ministeriums für Staatssicherheit als „verbrecherische Organisation“ ab. Bundestagsrede vom 18.4.1991. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Burkhard Hirsch (FDP) plädiert für ein Festhalten am Prinzip der individuellen Schuld und lehnt daher eine Bezeichnung des Ministeriums für Staatssicherheit als „verbrecherische Organisation“ ab. Bundestagsrede vom 13.6.1991. Quelle: Deutscher Bundestag

Die Gründung der ZERV

Die Organisation der Strafverfolgung und die Gründung der ZERV

Nicht nur die gesetzliche Grundlage bereitete Schwierigkeiten, die Regierungskriminalität der DDR zu ahnden, auch die Organisation der Strafverfolgung stellte ein Problem dar. Die Strafverfolgung ist in der Bundesrepublik Deutschland Aufgabe der Länder. Der Tatort entscheidet, welches Land für die Verfolgung der Straftat zuständig ist. Die Regierungskriminalität der DDR spielte sich zum größten Teil in der Hauptstadt der DDR also im Ostteil Berlins ab. Das führte dazu, dass die Berliner Strafverfolgungsbehörden nahezu die gesamte Regierungskriminalität der DDR strafrechtlich zu verfolgen hatten und schon bald an die Grenze ihrer Handlungsfähigkeit stießen. Im März 1991 appellierte daher Bundesjustizminister Klaus Kinkel an die alten Bundesländer, das Land Berlin zu unterstützen. Auch der Bund müsse einen Beitrag leisten.

Dieses Problem vor Augen, ergriff als erstes die Bundestagsfraktion der SPD die Initiative und stellte am 14. Oktober 1991 einen Antrag unter dem Titel „Bekämpfung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität“. Der Antrag forderte, dass der Ermittlungskomplex „Regierungs- und Vereinigungskriminalität“ dem Bundeskriminalamt (BKA) übertragen werde. Außerdem müsse sichergestellt werden, dass das BKA den Aufbau einer „leistungsfähigen Außenstelle“ in Berlin durchführe, damit eine „effektive Strafverfolgung“ erfolgen könne.

Am 11. Dezember 1991 widmeten schließlich auch die Koalitionsfraktionen dem Thema einen Antrag. Der Antrag bestätigte die Zuständigkeit des Landes Berlin, er appellierte an die restlichen Bundesländer, ihre „gegenüber dem Land Berlin gegebenen Hilfszusagen zu erfüllen“. Außerdem müssten weitere Unterstützungen erfolgen. Auch der Bund solle sich im „Rahmen seiner Möglichkeiten“ solidarisch beteiligen und – sofern nötig – Gesetzesinitiativen ergreifen.

Am 12. Dezember 1991 kam es im Bundestag zur ersten Lesung der beiden Anträge. Die CDU/CSU bekräftigte, dass die Kapazitäten des Bundes zur Strafverfolgung nicht ausreichend seien und daher vor allem die übrigen Bundesländer die Berliner Strafverfolgung zu unterstützen hätten. Natürlich könne auch das BKA helfen, aber das allein löse nicht die dringenden Probleme. Die Zuständigkeit des Landes Berlin sei verfassungsrechtlich verankert und könne nicht einfach aufgelöst werden. Auch die FDP unterstrich, dass die Länder zur Unterstützung herangezogen werden müssten, das BKA sei für diesen Fall ungeeignet. Beide Fraktionen regten an, über die Schaffung einer Behörde in Berlin nach Vorbild der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg nachzudenken.

Auch die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstrich die Zuständigkeit des Landes Berlin für die Strafverfolgung und lehnte den Vorschlag der SPD ab.

Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Eduard Lintner, erklärte, dass das Bundeskriminalamt bereits in die Strafverfolgung involviert sei und es nicht möglich sei, den Gesamtkomplex oder größere Teile dem BKA zu übertragen.

Die PDS/Linke Liste monierte die in den Anträgen verwendete Begrifflichkeit der „Regierungskriminalität“. Dieser Begriff stamme aus der Konferenz von Jalta im Jahr 1944 und bezöge sich auf das NS-Regime. Konrad Adenauer habe den Begriff in Bezug auf den Nationalsozialismus abgelehnt, da er nach „dem Recht des Siegers“ klinge. Diese „Siegermentalität“ finde sich nun auch, so der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer, in den beiden Anträgen zur strafrechtlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur: „Der Unterschied besteht nicht zuletzt darin, daß es nach 1945 um einen von der Weltgemeinschaft wegen seiner Kriegsverbrechen angeklagten und verurteilten Staat ging, während man jetzt ein auch in der UNO geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft nachträglich kriminalisieren will.“ Die PDS/Linke Liste lehnte den Vorschlag der Schaffung einer neuen Institution ab. Wenn schon eine neue Behörde geschaffen werde, dann solle sie den ostdeutschen Bundesländern helfen, sodass aus dem propagierten „Aufschwung Ost“ Realität werden könne.

  • „Es muß endlich die personelle und sachliche Grundlage geschaffen werden, […] damit die Hauptschuldigen des DDR- und SED-Unrechtsregimes vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Es kann nicht wahr sein, daß wir wegen der geschilderten Personalprobleme, aber auch wegen der Überlastung von Berlin weiter zuwarten.“

    Johannes Gerster (CDU/CSU),
    Deutscher Bundestag, 12/67, 12.12.1991, S. 5785.
  • „Einen Schritt von besonderer Bedeutung sehe ich in der Errichtung der Zentralen Erfassungsstelle zur Bekämpfung der Regierungskriminalität im Februar dieses Jahres. Diese Institution signalisiert, daß die Justiz unseres Landes nicht willens ist, vergangenes Unrecht der politischen und gesellschaftlichen Verdrängung anheimzugeben.“

    Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/DIE GRÜNEN),
    Deutscher Bundestag, 12/115, 29.10.1992, S. 9798.
  • „Wir waren und sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg einig, daß diese Aufgabe nicht in den alten Strukturen des traditionellen Bund-Länder-Verständnisses gelöst werden kann. Wir waren und sind uns einig, daß ein Verweis auf die Zuständigkeit des Landes Berlin zwar juristisch korrekt, aber politisch unzureichend ist.“

    Wolfgang Lüder (FDP),
    Deutscher Bundestag, 12/115, 29.10.1992, S. 9796.
  • „Es ist nach meiner Auffassung bei aller Notwendigkeit, begangenes Unrecht zu bestrafen, an der Zeit, daß der Bundestag dem drohenden Rechtskrieg gegen Hunderttausende Einhalt gebietet.“

    Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste),
    Deutscher Bundestag, 12/115, 29.10.1992, S. 9797.

Parallel zu dieser Debatte im Bundestag wurde in Berlin im Februar 1992 die „Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV)“ geschaffen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Behörde, die ab 1994 voll arbeitsfähig war, setzten sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Berliner Polizei sowie anderer Bundesländer und des Bundes zusammen. Die ZERV griff für ihre Arbeit auf die Akten der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter und auf die Akten der Stasi-Unterlagen-Behörde zurück.

In seiner Beschlussempfehlung vom 23. Oktober 1992 zu den Anträgen der SPD und der Koalitionsfraktionen ging auch der Innenausschuss auf die ZERV ein. Der Innenausschuss konzentrierte sich in seinen Beratungen darauf, für die Arbeitsfähigkeit der ZERV in personeller, sachlicher und räumlicher Hinsicht zu sorgen. Die Beschlussempfehlung enthielt auch ein Finanzierungskonzept für die Behörde, die zu 5 % von den neuen Bundesländern, zu 47,5 % durch die alten Bundesländer und zu
47,5 % durch das Land Berlin finanziert werden sollte. Der Bund sollte 25 % der Kosten des Anteils des Landes Berlins übernehmen. Der Innenausschuss erklärte, dass er positiv zur Kenntnis genommen habe, dass bei seiner letzten Sitzung am 23. September 1992 von den 210 Kriminalbeamtinnen und –beamten, die durch die Innenministerkonferenz der Länder zugesagt worden waren, bereits ein großer Teil abgeordnet worden sei. Der Bund werde sich mit 40 Beamtinnen und Beamten beteiligen. Auch sei bereits eine räumliche Lösung für die ZERV gefunden worden: Die Behörde kam im Gebäude des Flughafens Berlin-Tempelhof unter. Die Beschlussempfehlung appellierte an Bund und Länder, die gefundenen Vereinbarungen aufrechtzuerhalten und weiterzuführen. Die Anträge der SPD und der Koalitionsfraktionen sollten durch den Bundestag als erledigt erklärt werden.

Über die Beschlussempfehlung stimmte der Bundestag am 29. Oktober 1992 ab. Sie wurde mit Gegenstimmen aus der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen.

Bis zu ihrer Schließung am 31. Dezember 2000 erarbeitete die ZERV 20.327 Ermittlungsverfahren, von denen 16.323 Regierungskriminalität (Referat 2) und 4.004 vereinigungsbedingter Wirtschaftskriminalität (Referat 1) zugeordnet wurden.

  • Erwin Marschewski (CDU) spricht am 29.10.1992 im Bundestag über die Einrichtung der ZERV. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Die Position der SPD hinsichtlich der Einrichtung der ZERV wird von Günter Graf vorgetragen. Bundestagsdebatte vom 29.10.1992. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Wolfgang Lüder (FDP) zur Einrichtung der ZERV. Bundestagsdebatte vom 29.10.1992. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste) begründet für seine Bundestagsgruppe die Ablehnung der Beschlussempfehlung vom 23.10.1992. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) plädiert für die Annahme der Beschlussempfehlung vom 23.10.1992. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Die Position der Bundesregierung hinsichtlich der Beschlussempfehlung vom 23.10.1992 wird von Horst Waffenschmidt, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, vorgetragen. Quelle: Deutscher Bundestag

Dokumente

Der Fall Erich Honecker

Der Fall Erich Honecker

Da die Strafverfolgung im Sinne der Gewaltenteilung in den Händen der Judikative lag, wurden im Bundestag (der Legislative) keine Debatten über die einzelnen Prozesse gegen Täter der SED-Diktatur geführt. Was sich parallel zur Strafverfolgung im Deutschen Bundestag abspielte, beschränkte sich auf Nachfragen einzelner Abgeordneter hinsichtlich bestimmter Prozesse gegen zumeist prominente Personen der Staatsführung der DDR, wie beispielsweise Erich Honecker.

Nach einer kurzen Inhaftierung reiste Erich Honecker am 13. März 1991 illegal mit Hilfe sowjetischer Stellen nach Moskau aus. Die Bundesrepublik Deutschland forderte die Auslieferung nach Deutschland. Der Auslieferung versuchte sich Honecker durch den Aufenthalt in der chilenischen Botschaft in Moskau zu entziehen. Erst im Sommer 1992 wurde Honecker nach Berlin geflogen und in die Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit gebracht. Am 12. November 1992 kam es vor der 27. Strafkammer des Landgerichtes Berlin zu einem Prozess gegen ihn und fünf weitere Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Das Verfahren gegen Honecker wurde jedoch bereits im Januar 1993 eingestellt. Der an einem schweren Krebsleiden erkrankte ehemalige Staatsratsvorsitzende und Generalsekretär der SED hatte eine Verfassungsbeschwerde erhoben, da seine Lebenserwartung kürzer sei als das geschätzte Ende des Prozesses, wodurch sein Grundrecht auf Menschenwürde (dieses umfasst auch das Recht des Menschen, in Würde zu sterben) verletzt werde. Dieser Beschwerde entsprach der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, das Strafverfahren wurde eingestellt. Honecker flog daraufhin zu seiner Familie nach Chile, wo er 1994 verstarb.

Im Bundestag wurden diese Ereignisse mit Interesse verfolgt. Mehrere Abgeordnete befragten die Bundesregierung zum Verlauf der Causa Honecker. Der Abgeordneten Claus Jäger (CDU/CSU) stellte die Frage: „Ist die Verbringung des früheren Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, gegen den ein Strafverfahren anhängig ist und ein Haftbefehl vorliegt, aus der Obhut der in Deutschland stationierten sowjetischen Streitkräfte in die UdSSR mit Wissen und Einverständnis der Bundesregierung erfolgt, und wenn nicht, ist dieses Verhalten der Sowjetunion mit den jetzt in Kraft getretenen deutsch-sowjetischen Verträgen vereinbar?“ Die Bundesregierung erklärte am 21. März 1991, dass sie am Vormittag des 13. März 1991 vom sowjetischen Botschafter in Bonn informiert worden sei, dass Honecker zur Behandlung in ein Moskauer Krankenhaus ausgeflogen werde. Dies sei ohne die Zustimmung der Bundesregierung geschehen. Maßnahmen, durch die deutsche Staatsangehörige der Strafverfolgung entzogen werden, seien mit den deutsch-sowjetischen Verträgen nicht vereinbar. Die Bundesregierung habe bereits am 14. Dezember 1990 der sowjetischen Regierung ein Überstellungsersuchen der Berliner Justizbehörden betreffend Honecker übergeben, das von sowjetischer Seite nicht beantwortet worden sei. Die Erwartungen der Bundesregierung bezüglich einer Auslieferung Honeckers seien am 14. März 1991 dem sowjetischen Botschafter in Bonn übermittelt worden und auch durch den Bundesminister des Auswärtigen bei seinem Besuch in Moskau am 17. und 18. März 1991 erklärt worden.

Vom Bundestagsabgeordneten Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wurde in einer Rede am 25. April 1991 angezweifelt, dass die Bundesregierung genug unternehme, um Honecker nach Deutschland rückzuführen. Am 4. September 1991 forderte der Bundesminister der Justiz, Klaus Kinkel, angesichts der anlaufenden Prozesse gegen die Mauerschützen in Berlin, in einer Rede im Bundestag die rasche Rückführung des „Herrn Honecker“: „Nur [,] wenn wir gegen die Großen vorgehen, können wir es auch gegen die Kleinen tun.“

Auch am 19. September 1991 war die Rückführung Honeckers Thema der Fragestunde im Deutschen Bundestag. Der Abgeordnete Hans de With (SPD) fragte die Bundesregierung, was der Bundesminister des Auswärtigen bei seinem jüngsten Moskau-Aufenthalt unternommen habe, um die Rückführung Honeckers zu bewirken. Die Presse berichte über eine „gewisse Halbherzigkeit“ der Forderungen der Bundesregierung. Außerdem stellte de With die Nachfrage, ob der Außenminister auch verdeutlicht hätte, dass die Flucht Honeckers mit Hilfe des Militärs der Sowjetunion gegen den deutsch-sowjetischen Vertrag verstoße. Der Vertreter der Bundesregierung, Staatsminister Helmut Schäfer, legte dar, dass der Bundesminister des Auswärtigen abermals nachdrücklich die Auslieferung Honeckers gefordert habe. Gernot Erler (SPD) stellte die Nachfrage, ob die Sowjetunion durch ihr Verhalten verhindern möchte, dass ehemals Verbündete für Dinge, die sie als Verbündete der Sowjetunion getan haben, vor Gericht gestellt werden. Der Vertreter der Bundesregierung entgegnete, dass keine Mutmaßungen angestellt werden könnten, die geschilderte Interpretation sei jedoch nicht auszuschließen.

Als Honecker Ende 1991 einem Fernsehteam der ARD in Moskau ein langes Interview gab, wurde im Bundestag Empörung laut. In einer Rede erklärte Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), dass das Interview bewiesen habe, dass Honecker nicht der „alte, kranke Mann ist, dem man eine Verhandlung aus Humanitätsgründen nicht mehr zumuten kann. […] Er sollte sich endlich dazu entschließen, nicht mehr nur auf die Fragen von Reportern zu antworten, sondern auf die Fragen derer, die sein Grenzregime davon abhielt, die nächsten Angehörigen zu besuchen, wie er es jetzt für sich selbst beansprucht.“ Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz, beteuerte, dass er alles dafür tun werde, dass Honecker in Deutschland vor Gericht gestellt werde.

In der Fragestunde am 13. Februar 1992 wurde erörtert, inwieweit Chile durch die Duldung Honeckers in der chilenischen Botschaft gegen internationale Verträge verstieß und wie die Bundesregierung auf die Regierung in Chile einwirkte, um Honecker aus der Botschaft auszuweisen. Laut Bundesregierung verstoße Chile nicht gegen internationales Recht. Die Bundesregierung habe wiederholt auf allen ihr zur Verfügung stehenden Kanälen der chilenischen Regierung ihre Haltung im Falle Honecker erläutert und gebeten, Honecker nicht in der chilenischen Botschaft in Moskau zu dulden. Die chilenische Regierung habe erwidert, sie werde Honecker kein Asyl gewähren, sie sehe sich aber außerstande, Honecker aus der Botschaft auszuweisen. Diese Haltung werde begründet durch humanitäre Gesichtspunkte und der Dankbarkeit gegenüber Honecker für die Aufnahme vieler Chilenen während der Pinochet-Diktatur. Der chilenischen Regierung sei die deutsche Position bewusst, sie halte jedoch an ihrer Auffassung fest. Die Bundesregierung werde in ihren Bemühungen nicht nachlassen.

Der Ausgang des Verfahrens gegen Erich Honecker, das heißt seine Freilassung und seine Ausreise nach Chile, stieß bei Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Parteien auf Unverständnis. Sie äußerten ihren Unmut in mehreren Bundestagsreden.

Kein weiteres Strafverfahren hinsichtlich des SED-Unrechts fand im Deutschen Bundestag im Zeitraum von 1989 bis 1992 größeres Interesse als das gegen Erich Honecker. Beispielsweise wurden die Prozesse gegen die Schützen an der innerdeutschen Grenze, die 1991 begonnen hatten, zumeist nur im Kontrast zu den Schwierigkeiten, Honecker vor ein Gericht zu stellen, thematisiert.

  • Mit gestreckter Faust betritt Erich Honecker, früherer Staats- und Parteichef der DDR, am 30.11.1992 den Gerichtssaal in Berlin-Moabit. Neben ihm mussten sich zahlreiche SED-Funktionäre wegen der Toten an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer verantworten. Doch sieben Jahre nach der Einheit sitzen lediglich drei in Haft – darunter DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler.
    Quelle: picture-alliance / dpa | Andreas Altwein

  • Berlin, 12. November 1992: Beim Auftakt des Prozesses gegen den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker demonstrieren Anhänger vor dem Gerichtsgebäude in Berlin-Moabit für seine Freilassung.
    Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Daniel Biskup, Bild-Scan_099

Der Prozess gegen Wolfgang Berghofer

Der Berghofer-Prozess in Dresden

Zu einer Kontroverse kam es, nachdem der ehemalige Oberbürgermeister von Dresden Wolfgang Berghofer wegen Wahlfälschung angeklagt und vom Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion, dem Anwalt Otto Schily, verteidigt wurde. Schilys Verteidigungsstrategie lag darin, dass er die Auffassung vertrat, in der DDR habe es nur reine Scheinwahlen gegeben. Das bundesdeutsche Recht schütze jedoch nur demokratische Wahlen, insofern sei die Anklage „juristisch gegenstandslos“. Der Abgeordnete Jürgen Schmieder (FDP) sah in dieser Argumentation eine Verhöhnung der DDR-Bürgerrechtlerinnen und -Bürgerrechtler, die die Wahlfälschungen aufgedeckt hatten, und forderte in einer Bundestagsrede die SPD auf, Schily aus der Partei auszuschließen. Dies wurde von der SPD, in deren Reihen es ebenfalls vielfache Kritik an Schilys Strategie gab, zurückgewiesen: Schily sei seiner Pflicht als Verteidiger nachgekommen, sicherlich könne man seiner Verteidigungsstrategie widersprechen, das rechtfertige jedoch keinen Parteiausschluss. Letztendlich wurde Berghofer zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.

  • Der Abgeordnete Jürgen Schmieder (FDP) spricht am 23.1.1992 im Bundestag über den Berghofer-Prozess und fordert die SPD auf, Otto Schily aus der Partei auszuschließen. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Gregor Gysi (PDS/Linke Liste) spricht am 23.1.1992 im Bundestag über den Berghofer-Prozess und verteidigt Otto Schily (SPD), der im Berghofer-Prozess lediglich seinen Beruf als Rechtsanwalt ausübe.
    Quelle: Deutscher Bundestag

  • Wolfgang Thierse (SPD) weist am 23.1.1992 im Bundestag die Aufforderung, Otto Schily aus der Partei auszuschließen, zurück. Quelle: Deutscher Bundestag

  • Burkhard Hirsch (FDP) vertritt am 23.1.1992 im Bundestag die Auffassung, dass die Verteidigungsstrategie von Otto Schily (SPD) im Berghofer-Prozess die DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die zur Wahl gegangen sind, verhöhne. Quelle: Deutscher Bundestag

Gesetzgebung zur Verjährung von Straftaten

Das Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten

Erst im Verlauf des Jahres 1992 kam es zu gesetzlichen Neuregelungen hinsichtlich der strafrechtlichen Aufarbeitung von SED-Unrecht. Es ging um die Konkretisierung der Verjährungsregelungen für in der DDR begangener Straftaten. Für Taten, die nach DDR-Recht bereits verjährt waren, konnte nach dem Einigungsvertrag rückwirkend keine Verfolgung durchgeführt werden. Wie verhielt es sich aber bei Straftaten, die in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden? Für diesen konkreten Fall sah sich der Gesetzgeber (die Legislative) in der Pflicht, neue gesetzliche Regelungen zu erarbeiten, da die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden (die Judikative) zu unterschiedlichen Beurteilungen der Rechtslage kamen. Die Rechtsunsicherheit in Fragen der Verjährung erforderte eine Klarstellung.

Die Debatte begann mit einem Antrag der Bundestagsfraktion der SPD, der im Februar 1992 veröffentlicht wurde. Im Zentrum des Antrags standen Straftaten, die aus politischen Gründen in der DDR nicht strafrechtlich verfolgt wurden, weil sie etwa durch die Staatsführung der DDR veranlasst wurden. Für diese Straftaten sollte der Bundestag – nach Antrag der SPD – die Auffassung vertreten, dass die Verfolgungsverjährung bis zum 3. Oktober 1990 geruht habe: „Eine solche Erklärung ist als Signal gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern, aber auch als Anhaltspunkt für die Strafverfolgungsbehörden notwendig.“ Der Antrag betont, dass es eine wichtige Aufgabe des demokratischen Rechtsstaats sei, diese Straftaten aufzuarbeiten. Eine neue gesetzliche Regelung strebte der Antrag nicht an. Es wurde auf die Regelungen der Nachkriegszeit hinsichtlich der Verbrechen im Nationalsozialismus verwiesen. Für diese Straftaten ruhte die Verjährung zwischen 1933 und 1945.

Im März 1992 erarbeitete die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den „Entwurf eines Gesetzes zur Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen von DDR-Unrechtstaten“. Er forderte, „daß die Verjährung für Straftaten, die aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden und die mit dem erklärten oder mutmaßlichen Willen der SED-Staats- und Parteiführung begangen wurden, in der Zeit vom 11. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 geruht hat.“ Die Formulierung des Gesetzentwurfs orientierte sich an den Regelungen, die in der Nachkriegszeit für Verbrechen des Nationalsozialismus in Kraft traten. In der Begründung stellte die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jedoch ausdrücklich fest, dass man die Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht mit den Verbrechen aus der Zeit der DDR vergleichen könne. Die DDR habe weder einen Völkermord begangen, noch einen Weltkrieg begonnen. Auch sei die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem nationalsozialistischen Staat groß, in der DDR jedoch gering gewesen.

In der ersten Lesung der beiden Anträge am 7. Mai 1992 bekräftigten SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihre Auffassungen, die sich inhaltlich nicht unterschieden. Die SPD blieb jedoch bei ihrem Standpunkt, dass es zu keiner gesetzlichen Regelung kommen müsse, sondern eine deklaratorische Erklärung des Bundestags ausreichend sei, die Rechtsunsicherheit zu beseitigen. Die FDP unterstützte grundsätzlich ein Aktivwerden des Bundestags in dieser Problematik. Die Frist für das Ruhen der Verjährung sollte jedoch nicht mit dem Tag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik enden, sondern bereits am 18. März 1990 mit der ersten demokratischen Volkskammerwahl in der DDR. Die PDS/Linke Liste äußerte Bedenken gegenüber dem Antrag der SPD, da dieser die Gewaltenteilung aushebeln könne. Sie kritisierte an beiden Anträgen die Übernahme der Regelungen bezüglich der NS-Zeit auf die juristische Aufarbeitung der SED-Diktatur, dies bedeute faktisch eine Gleichsetzung der beiden Diktaturen. Der Einigungsvertrag regele die Verjährung umfassend, es bestünde kein Änderungsbedarf. Die CDU/CSU plädierte für eine gesetzliche Regelung, die sich an dem zu dieser Zeit im Bundesrat erstellten Gesetzesentwurf orientierte, der dem Bundestag noch nicht vorgelegt worden war.

Am 22. Juli 1992 verabschiedete der Bundesrat einen Gesetzesentwurf „zur Verjährung von SED-Unrechtstaten (VerjährungsG)“. Der Entwurf verfolgte drei Zielsetzungen. Erstens wurde mit dem Entwurf eine Klarstellung der verjährungsrechtlichen Beurteilung von SED-Unrechtstaten angestrebt. Zweitens sollten die zu den Gewalttaten des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit entwickelten Grundsätze bezogen auf die „besonderen Verhältnisse im SED-Staat“ angewandt werden. Drittens sollten die Straftaten, die in der DDR aufgrund politischer Gründe nicht verfolgt wurden, „präzisiert werden“. Konkret hieß das, dass festgelegt werden sollte, dass die Verjährung von Straftaten, „die aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht verfolgt wurden“, vom 11. Oktober 1949 (Wahl Wilhelm Piecks zum Präsidenten der DDR) bis zum 17. März 1990 (ein Tag vor der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR) ruhte. Außerdem sollte geregelt werden, dass Straftaten, „die nach dem Strafrecht der DDR bis zum 3. Oktober 1990 unverjährt waren, auch dann verfolgbar bleiben, wenn auf sie schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts auch das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anwendbar war und danach Verjährung eingetreten ist.“

In der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 24. September 1992 brachten alle politischen Kräfte, außer die Gruppe PDS/Linke Liste, bis auf kleine Kritikpunkte eine grundsätzliche Zustimmung zum Ausdruck. Die Kritik bezog sich auf die Benennung des Gesetzes, auf die Festlegung des Endes der Ruhefrist auf den Tag der demokratischen Wahlen in der DDR und auf den im Entwurf vorgesehenen Katalog der Straftaten, die beispielhaft für Anwendungsfälle des Gesetzes stehen sollten.

Der Rechtsausschuss des Bundestags beriet in den folgenden Monaten über die Anträge der SPD, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Gesetzentwurfs des Bundesrats. Am 18. Januar 1993 legte er seine Beschlussempfehlung vor. Diese stützte sich in weiten Teilen auf den Gesetzentwurf des Bundesrates. Die einzigen Änderungen betrafen die Benennung des Gesetzesentwurfs, dieser wurde nun als „Entwurf eines Gesetzes über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten (VerjährungsG)“ bezeichnet, und das Festlegen des Endes der Ruhefrist auf den 2. Oktober 1990. Der im Entwurf des Bundesrats geforderte Katalog an Straftaten wurde gestrichen. Die Beschlussempfehlung wurde am 21. Januar 1993 mit den Gegenstimmen der PDS/Linken Liste angenommen. Das Gesetz trat am 26. März 1993 in Kraft.

Die Debatte um die Verjährung von in der DDR begangenen Straftaten wurde im Bundestag in den kommenden Monaten und Jahren fortgesetzt. Die Verjährungsfristen wurden im September 1993 im „Gesetz zur Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen (2. Verjährungsgesetz)“ verlängert und 1997 im „Gesetz zur weiteren Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen und zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (3. Verjährungsgesetz – 3. VerjG)“ abermals verlängert.

In den folgenden Jahren führte die Justiz der Bundesrepublik Deutschland Ermittlungen gegenüber 100.000 Personen durch, es kam zu 1.021 Verfahren, 1.737 Personen wurden angeklagt und 753 rechtskräftige Urteile verhängt. Diese quantitative Bilanz änderte nichts an dem weitverbreiteten Unmut, den die als unzulänglich wahrgenommene Strafverfolgung des SED-Unrechts bei vielen Menschen zurücklies. Der Ausspruch der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ wurde zum geflügelten Wort, das auch in mehrere Reden des Bundestags einfloss.

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